Zuverlässige Zahlen, zu den vorwiegend weiblichen Sexarbeitenden, gibt es nicht. So wie es auch keine Ausbildung in dieser Arbeit gibt. Sexarbeitende müssen sich selbst beibringen, wie sie die Preise gestalten, wie sie mit den Kunden (99% der Menschen, die sexuelle Dienstleistungen kaufen, sind Männer) kommunizieren und wie sie für ihre Sicherheit sorgen. Vor vierzig Jahren wurde die Fachstelle Sexarbeit XENIA mit dem Ziel gegründet, die Akzeptanz der Bevölkerung für die Sexarbeit zu fördern und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Aus diesem Anlass hat Journal B mit einer Sexarbeiterin aus Bern gesprochen und die Fachstelle Sexarbeit XENIA besucht. Der Name C. ist der Redaktion bekannt, aufgrund von gesellschaftlichen Konsequenzen, wird auf den Klarnamen verzichtet.
Journal B: Wie bist du zu deinem Beruf gekommen?
C: Ich habe in einem anderen Land gelebt und dort studiert und musste Geld verdienen. Damit ich genügend Zeit habe, um vernünftig zu studieren und nebenbei noch politischen Aktivismus zu betreiben, habe ich mich entschieden, Sexarbeit zu machen, da ich so nicht so viel arbeiten musste und trotzdem ausreichend verdiente.
Wie hast du gelernt, Sexarbeit zu machen? Es ist ein Beruf, der vieles umfasst wie Kundenakquise, Mieten eines Raumes, Preisgestaltung etc.
C: Ich war dort in einer queeren Community zu Hause und viele Leute dieser Community waren in der Sexarbeit tätig. Somit war es für mich einfach, dort einzusteigen. Ich konnte Fragen stellen und wurde in die Etablissements, bei denen ich arbeitete, gut eingeführt. Viele Leute, die mit Sexarbeit beginnen, sind oft sehr allein und auf sich gestellt und können auch nicht mit ihrem Umfeld darüber sprechen, da der Beruf gesellschaftlich nicht angesehen und tabuisiert ist. So fehlt ihnen auch der Austausch und das Wissen, das so wichtig wäre, um sicherer arbeiten zu können. Da hatte ich Glück. Eine Sexworker-Community zu haben, macht mir auch heute den Umgang mit Stigma einfacher, weswegen ich das Sexworkers Collective so wichtig finde.
Ich glaube, dass es wie bei den meisten Jobs ist: Die Leute arbeiten nicht, weil sie Spass an ihrem Job haben, sondern weil sie im kapitalistischen System über die Runden kommen müssen
Du hast gesagt, du warst in der queeren Community und hast dort angefangen, Sexarbeit zu machen. Bietest du Sexarbeit für queere Menschen an?
C: Nein, ich arbeite momentan nur mit cis-Männern. Für mich hat meine Arbeit nichts mit meinen eigenen sexuellen Interessen zu tun. Ich arbeite, um Geld zu verdienen. Es geht nicht um meine Erfüllung. Historisch ist es so, dass viele queere Menschen Sexarbeiter*innen waren, weil sie in der Gesellschaft wegen Transfeindlichkeit, Homofeindlichkeit und anderen Diskriminierungsmechanismen ausgegrenzt wurden. So hatten sie es schwierig, einen Job zu finden, und Sexarbeit war dann eine Möglichkeit, Geld zu verdienen.
Wieso kaufen fast nur Männer Sex?
C: Das liegt am Patriarchat. Im Patriarchat ist es akzeptabel für Männer, Geld für Sex auszugeben und für Frauen nicht. Wir haben zudem einen Paygap und Dienstleistungen von Sexarbeiter*innen sind nicht günstig. Ich fände es schön, wenn es möglich wäre, dass auch Frauen diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen könnten. Aber es gibt sehr wenige Angebote, auch weil die Nachfrage nicht gross ist.
Wie kommst du an Kunden?
C: Ich bin selbstständig, habe einen eigenen Raum und mache auch die Kundenakquise selbst. Es gibt Webseiten, wo man ein Profil mit Bildern und Text erstellen kann. Um ein solches Profil zu machen, zahlt man für drei Tage 75 Franken. Es gibt auch billigere Plattformen, aber in meiner Erfahrung muss ich auf teureren Plattformen ausschreiben, da ich sonst nicht genug Kunden habe. Viele schreiben auch auf mehreren Plattformen aus, was dann noch teurer wird. Es gibt eine sehr gute Plattform, die von Beratungsstellen für Sexarbeitende gemacht und betrieben wird und gratis ist. Callmetoplay.ch ist leider in der Deutschschweiz noch nicht sehr bekannt. Meine Kunden schreiben mir dann eine Nachricht oder rufen mich an. Wenn sie Fragen haben, verweise ich gerne auf meine Webseite. Dann machen wir einen Termin. Ein grosser Teil meiner Arbeit ist das Schreiben mit Kunden. Es ist sehr zeitaufwendig und es gibt auch Männer, die das ausnutzen. Wir nennen sie «Tastenwichser». Die wollen schreiben und zu dem kommen, was sie wollen, ohne etwas zu zahlen. Sie fragen dann auch nach gratis Bildern. Wenn du schon eine Weile in der Branche tätig bist, spürst du das aber schnell, ob es ein ernsthafter Kunde ist.
Warum arbeitest du als Selbständige?
C: Ich bin sehr flexibel in meinen Arbeitszeiten. Im Bordell muss man zu bestimmten Zeiten dortbleiben, auch wenn keine Kunden kommen. Niemand schreibt mir vor, wie ich mich anziehen soll, ob ich meine Beine rasieren soll, und ich muss kein Geld abgeben. Der Nachteil ist, ich muss immer am Handy sein und ständig Termine ausmachen. Im Bordell kann ich einfach hingehen und die Kunden kommen zu mir. Ein weiterer Vorteil wäre, dass man dort Austausch mit anderen Sexarbeiter*innen hat und es eine gewisse Sicherheit gibt, da immer auch andere Menschen da sind. Hier bin ich alleine.
Viele eher linke Männer schämen sich dafür, dass sie zu mir kommen, da es in ihren Kreisen als unakzeptabel angesehen wird und da der Diskurs der Unterdrückung von Sexarbeitenden stark ist
Wie schützt du dich, wenn du alleine arbeitest?
C: Ich habe ein sehr gutes Gespür für Menschen. Vielleicht kommt das von meiner Vergangenheit, wo ich viel Autostopp gemacht habe. Dort musste ich schnell entscheiden, ob ich jemandem vertrauen kann. Es gibt auch eine Blacklist die unter Sexarbeiterinnen geteilt wird, und wenn ich ein ungutes Gefühl habe, gebe ich die Nummer des Kunden dort ein und oft hat sich mein Gefühl als richtig erwiesen. Wenn ich zu jemandem nach Hause gehe, habe ich Freundinnen, denen ich die Adresse, Nummer und Namen des Kunden weitergebe. Sie wissen genau, von wann bis wann ich dort bin. Dies kommuniziere ich auch dem Kunden, damit er nicht denkt, dass ich niemanden habe, der auf mich wartet. In den vielen Jahren, in denen ich in der Sexarbeit gearbeitet habe, bin ich noch nie in eine brenzlige Situation gekommen. Ich denke, dies hat auch mit meinen Privilegien zu tun als weisse Schweizerin.
Auf Podien, wo das Thema Sexarbeit diskutiert wird, erhalten oft privilegierte Personen eine Stimme. Dort wird auch gesagt, dass Sexarbeit für das eigene Begehren erfüllen kann. Wie siehst du das?
C: Ich glaube, dass es wie bei den meisten Jobs ist: Die Leute arbeiten nicht, weil sie Spass an ihrem Job haben, sondern weil sie im kapitalistischen System über die Runden kommen müssen. Leute, die darüber schreiben oder Podien besetzen, sind vielleicht auch die, die weniger prekär leben. Schön für sie. Ich arbeite in der Sexarbeit, weil ich gerne flexibel bin und mir vieles wichtiger ist als Lohnarbeit. Die Sexarbeit ermöglicht mir vieles, das ich, wenn ich in dem Beruf arbeiten würde, den ich gelernt habe, aus zeitlichen Gründen nicht leisten könnte. Mein Ziel ist, gleich viel oder mehr Geld zu verdienen durch weniger Arbeit.
Findest du es problematisch, dass in Talkshows oder Podcasts, oft nur privilegierte Sexarbeitende zu Wort kommen?
C: Klar, es wäre toll, wenn alle möglichen Sexarbeitenden zu Wort kommen könnten. Sicher haben privilegierte Menschen mehr Raum in der Öffentlichkeit, gerade weil sie durch ihre Privilegien mehr Möglichkeiten haben, Öffentlichkeitsarbeit zu machen, aber auch sie können sich für die Anliegen aller Sexarbeitenden einsetzen.
Polyamorie und sexpositive Partys sind in linken Milieus von Bern kein Tabuthema mehr und in progressiven akademischen Milieus gehört es fast schon zum guten Ton, nicht monogam zu leben. Aber das Kaufen von Sexarbeit ist immer noch ein Tabu. Kommen auch linke Menschen zu dir?
C: Im Austausch mit anderen Sexarbeiter*innen habe ich bemerkt, dass ich durch meine Ausschreibung und meine Bilder mehr linke Männer anspreche als meine Kolleginnen, aber nicht nur. Viele eher linke Männer schämen sich dafür, dass sie zu mir kommen, da es in ihren Kreisen als unakzeptabel angesehen wird und da der Diskurs der Unterdrückung von Sexarbeitenden stark ist. Dieses Unwohlsein muss ich dann auch auffangen. Dort werde ich auch oft mit Aussagen konfrontiert wie: «Bei dir merke ich, dass du das gerne machst, du bist weiss, du redest Schweizerdeutsch, du bist privilegiert.» Bei Menschen, die nicht gut Deutsch sprechen und nicht weiss sind, haben sie das Gefühl, dass sie unterdrückt sind und diese Arbeit nicht freiwillig machen. Ich denke, diese Denkweise ist sehr von Rassismus geprägt.
Als Feministin weiss ich, dass die Sexindustrie von festgewurzelter Ungleichheit geprägt ist
In der Sexualität ist vieles Aushandlungssache. Zwei Menschen finden zueinander und handeln aus, wie sie Sex haben möchten, im besten Fall nach dem Konsensprinzip. Bei der Sexarbeit läuft das ja anders ab. Du sagst, was du machst, und der Kunde bekommt, was du anbietest. Wie gehst du mit Konsens um?
C: Genau, ich schreibe an, was ich anbiete, z.B. penetrativen Sex, Küssen oder auch BDSM-Praktiken. Dabei ist es mir wichtig, auch Konsens abzufragen. Wenn meine Kunden zu mir kommen, mache ich ein Erstgespräch, wo ich herausfinde, was sie möchten und was ihre Tabus sind. Wir besprechen da auch, wie sie kommunizieren können, wenn etwas nicht stimmt.
Du hast viel Erfahrung mit Sexualität und unterschiedlichen Menschen. Kommen auch Leute zu dir, die ein sexuelles Problem haben und dies vielleicht nicht mit ihren Partner*innen besprechen möchten?
C: Ja, es kam ein Mann zu mir, der immer, wenn es um penetrativen Sex ging, seine Erektion verlor. Er kam regelmässig und wir haben uns das Problem gemeinsam angeschaut. Er wollte zu jemandem, zu dem er keinen emotionalen Bezug hatte, und penetrativen Sex in diesem Setting üben. Es gibt auch Männer, die ihr erstes Mal mit mir haben möchten. Sie sind meist in einem Alter, wo es gesellschaftlich nicht mehr so akzeptabel ist, noch nie Sex gehabt zu haben. Viele Männer kommen auch, um zu reden. Ich denke, das ist ähnlich wie beim Coiffeur oder in der Massage. Ich höre oft zu oder diskutiere mit ihnen.
Wie gehst du mit dieser Rolle um?
C: Ich bin keine Therapeutin und schicke die Männer öfters auch weiter. Zuhören kann ich aber gut und auch Sachen ausprobieren mache ich gerne. Ich erlebe es aber immer wieder, dass Kunden emotional mehr wollen, als ich gewillt bin zu geben. Da muss ich öfters meine Grenzen klar kommunizieren.
Musst du dein privates Ich, deine private Sexualität abgrenzen? Wenn ja, wie machst du das?
C: Früher habe ich mich oft geschminkt oder eine Perücke getragen, wenn ich gearbeitet habe, um Arbeit und Privatleben zu trennen. Heute brauche ich das nicht mehr. Wenn ich aus diesem Raum raus bin, ist die Arbeit fertig und ich nehme selten etwas mit. Andere Jobs haben mich oft emotional viel länger beschäftigt.
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Was bräuchte es, dass Sexarbeit weniger tabuisiert wird?
C: Wir sind die Expertinnen und wissen am besten, was wir brauchen, um sicher und selbstbestimmt arbeiten zu können. Mit Sexarbeiterinnen zu reden, uns zuzuhören und ernst zu nehmen, finde ich einen guten Anfang. Auf Sprache zu achten ist wichtig und für uns einzustehen, wenn andere Unwahrheiten über uns erzählen. Stereotype Annahmen und ungenaue Darstellungen beeinflussen, wie andere uns sehen, darum ist es wichtig, diese richtigzustellen und sich für unsere Rechte auszusprechen. Es wäre auch wichtig, dass die Arbeitsrechte der Sexarbeitenden gestärkt würden. Wichtig wäre eine Entkriminalisierung, weil dies am besten für die Sicherheit von uns Arbeiterinnen ist. So können wir selbstbestimmter arbeiten.
Gibt es etwas, das du den Leser*innen mitgeben möchtest?
C: Als Feministin weiss ich, dass die Sexindustrie von festgewurzelter Ungleichheit geprägt ist. Es ist ein Fakt, dass die meisten Kunden von Sexarbeiter*innen Männer mit Geld sind und die meisten, die es anbieten, Frauen ohne viel Geld. Trotzdem bin ich gegen ein Verbot. In einer perfekten Welt gäbe es weniger Menschen, die gezwungen sind, sexuelle Dienstleistungen zu verkaufen, um über die Runden zu kommen. Aber das zu verbieten hilft niemandem, die Miete zu zahlen oder das Essen auf den Tisch zu bringen für die Kinder. Deswegen stehe ich für die Entkriminalisierung und Entstigmatisierung von Sexarbeit ein, damit wir sicherer und selbstbestimmter arbeiten können.