Journal B: Reden wir über die Fachstelle Sexarbeit XENIA. Wie kommt eine teilweise staatlich finanzierte Fachstelle mit Sexarbeitenden in Kontakt?
Christa Ammann: Durch aufsuchende Sozialarbeit, eine akzeptierende Grundhaltung und der Einhaltung des Gebots der freiwilligen und wenn gewünscht anonymen Beratung. Insgesamt sind wir neun Leute, die sich in 320 Stellenprozente teilen. Vier Mediatorinnen sind im ganzen Kanton ausschliesslich aufsuchend mit einem Gesundheitsangebot unterwegs. Zwei von ihnen arbeiten mit zehn, zwei mit zwanzig Stellenprozenten, alle haben Migrationshintergrund, alle sind mehrsprachig und für uns wichtige Türöffnerinnen.
Daneben gibt es ein Beratungsteam mit zwei Schweizerinnen, einer Thailänderin und eine Tschechin. Dieses Team arbeitet teilweise aufsuchend, um Kontakte zu schaffen und die Arbeitsbedingungen kennen zu lernen. Komplexere Probleme werden im Rahmen einer Beratung auf der Fachstelle besprochen, wobei wir wie gesagt keine Kontrollaufgabe haben. Die Beratungen sind freiwillig, die Themen werden von den Sexarbeitenden gesetzt.
Wo findet in der Stadt Bern Sexarbeit eigentlich statt? Gibt es hier auch so etwas wie der Kreis 4 in Zürich?
Früher, als es noch kaum Salons gab, fand die Sexarbeit in Bern mehr draussen statt. Nun sind die Etablissements über die ganze Stadt verteilt, was auch damit zusammenhängt, dass es in der Bundesstadt mehr als in anderen Städten Freier gibt, die auf maximale Diskretion angewiesen sind, da man sie in der Öffentlichkeit kennt. Zentralisierung kann nicht alle Bedürfnisse abdecken. Die Menschen sind verschieden: Die einen gehen lieber in einen grossen Club, andere lieber in eine Privatwohnung. Das gilt für die Kundschaft so gut wie für die Sexarbeitenden. Diskretion ist ja auch für die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter wichtig, weil die Stigmatisierung gross ist. In gewissen Herkunftsländern von Sexarbeiterinnen ist Sexarbeit verboten. Oder nehmen wir an, jemand möchte den Beruf wechseln. Schreib mal in deinen Lebenslauf: 2005 bis 2010 Sexarbeiterin.
Was schreibt man denn stattdessen?
Man betont die beruflichen Fähigkeiten. Sexarbeit braucht viel Menschenkenntnis – möglichst auf einen Blick muss man erkennen können: Will’s der Kunde devot oder dominant? Daneben muss eine Sexarbeiterin Geschäftsfrau, Psychologin und Schauspielerin sein, die dem Kunden das Gefühl gibt, sie mache ihre Arbeit gern – weil er sonst vermutlich nicht noch einmal kommt. Zudem wollen nicht alle Sex, es gibt Männer, die aus grosser Vereinsamung herkommen und ein bisschen reden oder in den Arm genommen werden wollen. Sexarbeit ist unter diesem Aspekt auch Care-Arbeit. All diese Fähigkeiten können schon auch zu anderen Jobs befähigen.
Wir brauchen im Gespräch mehrheitlich die weibliche Form, aber nicht konsequent: Gibt es in Bern überhaupt Sexarbeiter?
Es gibt eindeutig mehr Frauen als Männer. In Bern arbeiten aber relativ viele transsexuelle Personen. Sexarbeiter bieten in der Regel ihre Dienstleistung auch für Männer an. Die Berner Kundschaft besteht sicher nahezu zu 99 Prozent aus Männern. Sexuelle Dienstleistungen von Männern für Frauen oder von Frauen für Frauen sind nach wie vor ein Randphänomen. Bei XENIA kommen pro Jahr vielleicht zwei, drei Sexarbeiter in die Beratung. Gleichzeitig haben wir aufsuchend rund 3’500 und hier auf der Fachstelle rund 1’500 Beratungskontakte – Kontakte, nicht Personen, in diesen Zahlen sind also viele Mehrfachnennungen inbegriffen. Pro Jahr beanspruchen um die 130 Personen mehr als drei Stunden Beratungszeit.
Woher kommen die Leute, die in Bern Sexarbeit anbieten?
Es gibt Schweizerinnen und Schweizer, die in diesem Beruf arbeiten. Aber XENIA steht seit ein paar Jahren vor allem mit Personen mit Migrationshintergrund im Kontakt. Das hat damit zu tun, dass es nicht selten um Fragen der Aufenthaltsbewilligung geht. Und wer im Kanton Bern eine Arbeitsbewilligung braucht, steht vor einem Papierkrieg sondergleichen: Wer Sexarbeit machen will, muss sogar einen Businessplan einreichen. Auch, wenn es um die AHV, die Steuern oder um die Krankenkasse geht: Kennt man das System Schweiz nicht, ist es oft schwierig, allein zurecht zu kommen.
2008 hat die Zürcher Sozialarbeiterin Irene Scharpff gegenüber der Gewerkschaftszeitung Work postuliert, die Gewerkschaft Unia solle den Dienstleistungsberuf der Sexarbeit als neue Branche organisieren. Was ist daraus geworden?
Eine SexarbeiterInnen-Gewerkschaft wäre aus unserer Sicht eigentlich wünschenswert. Aber bis heute gibt es eine solche nur in Genf. Denn es ist so: Wegen der hohen Mobilität und dadurch, dass viele Sexarbeiterinnen kein Interesse daran haben, ihren Lebensmittelpunkt in die Schweiz zu verschieben, ist eine gewerkschaftliche Organisation der Leute sehr schwierig. Kommt dazu, dass die meisten Sexarbeitenden selbständig erwerbend sind. In solchen Fällen fühlen sich Gewerkschaften eher nicht zuständig. Und schliesslich: Wer von den Sexarbeitenden kann es sich leisten, sich zu exponieren, wenn es um die Selbstorganisation geht? Wer ist in der privilegierten Lage, öffentlich hinstehen und sagen zu können: Ich bin Sexarbeiterin, und ich stelle Forderungen?
Und auch in dieser Branche gibt es Verteilkämpfe. Als Fachstelle haben wir mit allen Segmenten dieser Branche zu tun – auch mit illegalisierten Sexarbeiterinnen zum Beispiel. Die geschriebenen Rechte sind gut und recht, aber fragen muss man immer: Wer hat Zugang zu diesen Rechten? Für diesen Zugang muss man jene unterstützen, die nicht alleine kämpfen können. Auch dafür steht XENIA.