Journal B: In Lauf des Herbsts schlugen verschiedene Medien Alarm: Seit Ende Juli 2016 an der Rathausstrasse 50 die Tübelibar geschlossen worden sei, gebe es in der Berner Altstadt einen nicht akzeptablen Strassenstrich. Stimmt das?
Christa Ammann: Seit 1974 hat Bern eine Verordnung über die Strassenprostitution, die 2003 revidiert worden ist. Der Berner Strassenstrich befindet sich nicht an der Rathausgasse, sondern an mehreren anderen Orten. Andererseits: Wenn niemand einen Skandal sähe, müssten wir jetzt nicht darüber reden.
Es gibt also tatsächlich ein Problem?
Was stimmt, ist folgendes: Solange es die Tübelibar gab, fanden die Kontakte der Sexarbeiterinnen mit ihrer Kundschaft dort drin statt. Dieser Ort, wo auch Sexarbeiterinnen willkommen waren, ist tatsächlich weg. Und es gibt keine Alternative.
Stefanie Anliker, Präsidentin der Vereinigten Altstadtleiste, sagte Ende September gegenüber dem «Thuner Tagblatt»: «Die Anwohner wollen nicht mehr dulden, dass die Altstadt zu einem Strassenstrich wird.»
Nur weil eine Bar geschlossen wird, lösen sich Menschen nicht auf, sie können ohne Einnahmen nicht überleben oder haben nicht plötzlich eine andere Erwerbsarbeit. Die öffentliche Empörung ist ein Theater. Männer, die von einer Sexarbeiterin angesprochen werden, sollen höflich «Nein danke» sagen und weitergehen – so mache ich das auch, wenn mir auf der Strasse jemand etwas anbietet, das ich nicht brauche. Mit Verlaub: Was würde man sagen, wenn Frauen jedes Mal, wenn sie in der Berner Altstadt angemacht werden, zu den Medien rennen würden? Zudem geht es bei der Sexarbeit um Sex gegen Geld, nicht um Sex «just for fun». Damit ist klar: Will das Gegenüber nicht bezahlen, ist die Diskussion beendet.
In einem «Interview» im «Bund» sagte der Basler Stadtentwickler Thomas Kessler am 19. Januar, dass Städte auch zu ruhig, «zu einer Art Sanatorium», werden könnten. Hat die Empörung in der Altstadt auch damit zu tun?
Wohl schon. Einerseits wollen die Leute heute gutsituiert mitten in den Städten wohnen, andererseits trotzdem ungestört die Grillen zirpen hören. Das trifft die Sexarbeit, aber auch die Bars. Sexarbeit gibt es, und sie soll ausgeübt werden können. Wird sie in die Agglomerationen oder in die Gewerbe- und Industriegebiete verdrängt, erhalten zwar die einen ihr Sanatorium oder ihr Hipsterquartier, aber die anderen das grössere Risiko, weil der soziale Schutz durch das Leben in den Gassen wegfällt.
Mehr als durch die Schliessung der Tübelibar ist das Sexgewerbe in letzter Zeit ja wohl durch das «Prostigesetz», das kantonale «Gesetz über das Prostitutionsgewerbe», verändert worden, das am 1. April 2013 in Kraft trat. Worum geht es?
Das Gesetz ist die erste explizite Regelung des Sexgewerbes im Kanton Bern. Es entstand aus einem politisch-behördlichen Bedürfnis nach Kontrollmöglichkeiten und mischt den Schutz der Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter vor Ausbeutung mit dem Schutz der Bevölkerung vor störenden Emissionen durch das Sexgewerbe, indem es Zonen benennt, in denen die Strassenprostitution nicht erlaubt ist, zum Beispiel Wohngebiete oder Kirchen- und Schulareale.
Blättert man im Gesetz, geht es im Hauptteil um Bewilligungsfragen.
Das Gesetz verlangt eine Betriebsbewilligung, wenn mehr als einen Raum zum Zweck der Ausübung von Prostitution zur Verfügung gestellt wird. Damit sollen Personen in die Verantwortung genommen werden, die über die Miete Gewinn durch sexuelle Dienstleistungen anderer Personen erzielen. Der Gesetzgeber nimmt solche Vermieter in die Pflicht bezüglich Hygiene oder feuerpolizeiliche Standards, geregelten Aufenthaltsstatus der Sexarbeitenden und Zusammenarbeit mit den Behörden.
Was hat sich mit dem Gesetz in der Praxis verändert?
Vor allem hat eine Verschiebung der Sexarbeit in Privatwohnungen stattgefunden, weil das vorgeschriebene Bewilligungswesen viel Papierkrieg bedeutet. In kleineren Salons, in denen zuvor gleichberechtigt gearbeitet wurde, war oft niemand bereit zu sagen: Ich übernehme die Verantwortung, gebe meinen Namen, beantrage meinen Straf- und meinen Betreibungsregisterauszug, führe über jene, die hier arbeiten, zuhanden der Polizei Registerblätter, und schliesslich hafte ich auch noch, wenn es Probleme gibt. Da kann es attraktiver sein, alleine in einer Privatwohnung und unter dem Radar des Gesetzes zu arbeiten.
Wie könnte der Papierkrieg denn konkret verkleinert werden?
Wir von XENIA sind der Meinung, dass man Kleinbetriebe mit zwei bis drei Sexarbeiterinnen von der Bewilligungspflicht befreien müsste. In Kleinbetrieben ist in der Regel die Unabhängigkeit der Sexarbeitenden höher, die Hierarchien flach und sie bieten gleichzeitig den Schutz, nicht alleine arbeiten zu müssen. Der administrative Aufwand des Bewilligungsverfahrens und die Möglichkeit, eine Person als Betreiber zu identifizieren, ist gerechtfertigt bei grösseren Firmen, die für Sexarbeit Häuser mit mehreren Wohnungen oder mehrere Häuser betreiben.
Es braucht demnach eine Revision des Gesetzes.
XENIA arbeitet in der kantonalen Kommission Prostitutionsgewerbegesetz mit, die zuhanden des Regierungsrates einen jährlichen Bericht verfasst. Im neusten Bericht haben wir eine unabhängige, wissenschaftliche Evaluation des Gesetzes beantragt (siehe hier, S.10). Der Antrag ist allerdings bisher nicht mehrheitsfähig.
Hat das Prostitutionsgewerbegesetz weitere Effekte?
Es hat zum Beispiel zu höheren Mieten und zu Salonschliessungen geführt.
Gibt es dafür mehr grössere? Geht es um eine Konzentration oder um Reduktion?
Um Reduktion: Ich denke an den Lagerweg, aber auch an verschiedene alteingesessene Etablissements, die geschlossen wurden, nachdem sie 2013 keine Bewilligung mehr bekommen hatten, weil Sexarbeit als nicht zonenkonform taxiert wurde. Auch wenn sich ein Teil der Arbeitsplätze in Privatwohnungen verschoben hat, ist die Gesamtzahl wohl gesunken. Aber mehr als Schätzungen gibt es nicht: Die Mobilität der Sexarbeitenden ist heute viel grösser als noch vor ein paar Jahren. Man teilt sich die Arbeitsräume, arbeitet einige Wochen in Bern und zieht dann weiter oder kehrt ins Heimatland zurück. EU-Bürger und -Bürgerinnen nutzen oft das Meldeverfahren, das ihnen ermöglicht, während 90 Tagen pro Kalenderjahr in der Schweiz zu arbeiten.