Sex, Scham und Sicherheit: wer sich testet, übernimmt Verantwortung

von David Fürst 6. Juni 2025

Gesundheit Testen schützt körperlich und emotional. Ein Besuch bei der Anonymen Teststelle HIV und STI des Inselspitals in Bern zeigt, wie wichtig niederschwellige Angebote für sexuelle Gesundheit sind. Giuliana Frei spricht über Hemmschwellen, Aha-Momente und darüber, für wen ein Test besonders sinnvoll ist.

Giuliana Frei hat viele Jahre in der Psychiatriepflege gearbeitet, im stationären wie im ambulanten Bereich. Nach der Geburt ihres Kindes vor drei Jahren wünschte sie sich eine berufliche Veränderung. «Ich wollte mit Menschen arbeiten, die gesund sind oder auf dem Weg dahin.» Die Stelle im STI Testangebot des Inselspitals Bern passte perfekt. «Die Arbeit ist mega spannend. Ich bin jetzt seit eineinhalb Jahren hier und es ist eine schöne Mischung aus Beratung, Medizin und menschlichen Geschichten.»

Das Angebot richtet sich an alle, die sich auf sexuell übertragbare Infektionen testen lassen wollen, anonym, vertraulich und unkompliziert. «Wir planen rund 30 Minuten für einen Termin ein. Es geht nicht nur um Abstriche und Laborwerte, sondern oft auch um Angst, Unsicherheit, Tabus in Bezug auf Sexualität oder ganz konkrete Fragen zur eigenen Sexualität und deren Sicherheit.»

Ein zentrales Element der Teststelle ist die Anonymität: Wer möchte, darf bar bezahlen, sich mit einer anonymen E-Mailadresse anmelden, ohne Namen, ohne Krankenkasse. Gerade in sensiblen Lebenssituationen sei das wichtig, sagt Frei: «Die Leute machen Dinge, von denen sie nicht wollen, dass jemand davon erfährt und trotzdem wollen sie Verantwortung übernehmen. Das sollte ihnen so einfach wie möglich gemacht werden.»

Die Fachstelle wurde Anfang der 1990er-Jahre gegründet, als Reaktion auf die hohe Zahl an HIV-Erkrankungen und die gesellschaftliche Stigmatisierung. Man erkannte damals, wie wichtig es ist, niederschwellige und anonyme Testmöglichkeiten zu schaffen.

die proben werden verschlossen

Scham, Geld, Unwissen – was vom Testen abhält

«Es könnten sich definitiv mehr Menschen testen», sagt Frei. «Einige wissen nicht, dass STIs auch mit Kondom übertragbar sind. Andere haben schlicht Angst oder empfinden Scham. Und viele sagen, es sei ihnen zu teuer.»

Besonders in städtischen, eher akademischen oder queeren Milieus beobachtet sie eine hohe Sensibilisierung. «Menschen in offenen oder polyamoren Beziehungen lassen sich oft sehr bewusst und regelmässig testen. Dort ist Sexualität weniger tabuisiert, testen gehört einfach dazu.» In anderen sozialen Schichten sei das Thema hingegen oft noch mit viel Unsicherheit oder Schweigen behaftet. «Es gibt auch viele Menschen, die sich noch nie getestet haben. Da fehlt das Wissen oder auch der Zugang.»

Viele haben ein schlechtes Gewissen oder psychosomatische Symptome, obwohl die Tests später negativ sind.

Tatsächlich sei das Verständnis für sexuelle Gesundheit noch immer nicht selbstverständlich – trotz Aufklärungsarbeit in den Schulen. Dabei sei der Bedarf riesig: Chlamydien und Gonokokken gehören zu den häufigsten übertragbaren Krankheiten bei heterosexuellen Menschen. HIV sei heute medizinisch gut behandelbar – aber der Moment vor dem Test sei für viele extrem belastend. «Wenn jemand total gestresst ist und ich ihm nachher sagen kann, der HIV-Test ist negativ. Das ist oft ein unglaublicher Moment der Erleichterung.»

Giuliana Frei mag an ihrem Job besonders, wenn sie den Menschen etwas vermitteln kann. «Ich liebe es, wenn Menschen Aha-Erlebnisse haben, wenn sie sagen: ‚Ah, das wusste ich nicht!‘ Oder wenn jemand gesund ist und dankbar wieder geht. Es geht hier oft um Selbstfürsorge – das berührt mich.»

Wer kommt?

Die Besuchenden sind aus jeder Altersgruppe und aus allen Geschlechtern, die meisten sind zwischen 20 und 40 Jahre alt. Manche kommen, weil sie betrogen wurden. Andere, weil sie betrogen haben. Viele sprechen offen über ihre Situation, gerade wenn der emotionale Druck hoch ist. «Ich versuche, niemanden zu verurteilen», sagt Frei. «Auch wenn es Männer sind, die ihre Frau betrogen haben, sie kommen, weil sie Verantwortung übernehmen wollen. Viele haben ein schlechtes Gewissen oder psychosomatische Symptome, obwohl die Tests später negativ sind.» Frei bleibe dabei stets professionell: «Es ist gut, dass sie da sind und sich testen lassen.»

Besonders im Fokus sind auch PrEP-Nutzer*innen, Menschen, die die HIV-Prophylaxe einnehmen möchten. Hier sind Tests Pflicht, aber nicht anonym, da ein Rezept benötigt wird. Auch in diesem Bereich zeigt sich: Wer sich testen lässt, denkt voraus. «Ich glaube, das Angebot wirkt genau da, wo es gebraucht wird», sagt Frei. «Aber es müsste sichtbarer sein. Mehr Werbung, mehr Aktionen. Unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung und kostenlos. Das wäre wichtig.»

Zahlen, Zugang, Vergleich

Im Jahr 2024 führte die anonyme Teststelle 2’603 Beratungsgespräche und 2’328 vollständige STI-Tests durch, Tendenz steigend. «Wir sind aktuell ein Teammitglied mehr und haben mehr Stellenprozente gutgeschrieben bekommen. So können wir an mehreren Tagen beide Büros bzw. Teststellen gleichzeitig belegen. Das erhöht die Kapazität deutlich», erklärt Frei.

Wer sich in Bern testen lassen will, hat neben der Insel-Teststelle auch noch andere Möglichkeiten: Beim Checkpoint  (ein Angebot das sich an LGBT+‑Personen, Männer, die Sex mit Männern haben, Sexarbeitende richtet). In der Apotheke Dr. Noyer im PostParc (Schanzenstrasse) kann man sich ebenfalls auf STIs testen lassen, über das Angebot Get Checked. Es ist ein wenig teurer und nicht anonym, da auf den Namen getestet wird, aber als Walk-in-Angebot ohne Voranmeldung unkompliziert nutzbar. «Sonst ist mir in Bern nichts Vergleichbares bekannt. Das Spital Biel testet ebenfalls und ist günstiger als das Inselspital», ergänzt Frei.

Aus unserer Sicht braucht es dringend kostengünstige Zugänge.

Im gesamtschweizerischen Vergleich steht Bern gut da. «Ich denke, Bern hat mehrere Teststellen und ist damit recht fortschrittlich», so Frei. «Zürich hat allerdings noch zeitgemässere und niederschwelligere Pilotprojekte. Teilweise sogar mit Gratistests. In kleineren oder ländlicheren Kantonen hingegen fehlt es oft an anonymen Angeboten.»

Insgesamt müsse noch einiges gehen, ist Giuliana Frei überzeugt. «Aus unserer Sicht braucht es dringend kostengünstige Zugänge, besonders für junge Menschen oder Personen mit geringem Einkommen», sagt sie. Der Wille zur Verantwortung sei bei vielen da, es müsse aber strukturell einfacher werden, diese auch wahrzunehmen.

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