Politik - Meinung

Selbstermächtigung an der Urne

von Willi Egloff 7. März 2024

Kommentar Als «Sensation» bezeichneten die bürgerlichen Medien die überwältigende Zustimmung zur 13. AHV-Rente. Was genau denn daran so sensationell sei, fragt sich Willi Egloff und blickt auf das Abstimmungswochenende zurück.

Seit Wochen zeigten alle Meinungsumfragen hohe Zustimmungswerte für die Volksinitiative, welche die Einführung einer 13. AHV-Rente verlangte. Auch damit, dass eine Mehrheit der Kantone der Vorlage zustimmen würde, musste aufgrund dieser Vorhersagen durchaus gerechnet werden. Warum also die grosse Überraschung am Abstimmungssonntag? Warum dieses ungläubige Schütteln bürgerlicher Köpfe?

Während Wochen und Monaten hatten insbesondere die «NZZ» und die «Tamedia»-Zeitungen ein enormes Trommelfeuer auf ihre Leserinnen und Leser losgelassen. Kritiklos übernahmen und befeuerten sie die Behauptungen der Wirtschaft, dass der Ausbau der Altersrenten gar nicht nötig sei, dass mit dieser Rentenerhöhung die AHV finanziell ausgeblutet werde, dass die 13. AHV-Rente zu grossen Einkomensverlusten bei der erwerbstätigen Bevölkerung führe, dass Junge gegen Alte ausgespielt würden und vieles andere mehr.

Aktuelle und zukünftige Rentner:innen wurden als miese Egoist*innen beschimpft, die nur an ihr eigenes Portemonnaie dächten und das Wohlergehen zukünftiger Generationen kaltherzig aufs Spiel setzen würden. Auch «Bund» und «Berner Zeitung» reihten sich brav und oft erstaunlich unjournalistisch in diese einseitige Propagandaschlacht ein.

Fehlende Glaubwürdigkeit

Es ist ja alles andere als neu, dass soziale Anliegen von Seiten der bürgerlichen Parteien und der Wirtschaft mit den Argumenten, sie seien nicht finanzierbar und sie würden zu Engpässen und wirtschaftlichen Problemen führen, bekämpft werden. Neu ist, dass diese Argumente nichts genützt haben. Die Stimmbürger*innen haben der Angstmache nicht geglaubt, weil sie merkten, dass die Argumente hohl waren.

Nur darin liegt die durchaus erfreuliche Überraschung des vergangenen Abstimmungswochenendes: Dass die Stimmbürger*innen ihrer eigenen Lebenserfahrung mehr vertrauten als dem Geschwätz der Leitmedien. Dass sie sich nicht einreden liessen, dass alles zum Besten bestellt sei, obwohl sie täglich spüren, dass vieles teurer wird und sie sich weniger leisten können. Dass sie sich für einmal getrauten, die politischen Fäden in die eigenen Hände zu nehmen und ihre Interessen eigenmächtig und selbstbestimmt zu vertreten.

In der Sozialpsychologie würde ein solches Verhalten wohl als Selbstermächtigung oder Empowerment bezeichnet. Diese Selbstermächtigung an der Urne als Sensation zu bezeichnen, zeugt von einer nicht gerade hohen Meinung von der Urteilskraft der Stimmbürger*innen.

Kein Generationenkonflikt

Ebenso erfolglos war auch das Bemühen, bei der Vorlage einen Gegensatz zwischen Alt und Jung zu kreieren. Es ist bei der AHV eben nicht so, dass die Jungen bezahlen und die Alten kassieren. Vielmehr bezahlen alle Erwerbtätigen, egal ob alt oder jung. Und es kassieren alle, die nicht mehr Erwerbstätigen sofort, die noch Erwerbstätigen später. Die wachsende Lebenserwartung hat zur Folge, dass jüngere Menschen langfristig sogar etwas länger von der Verbesserung der AHV profitieren werden als die jetzige AHV-Generation.

Auch in diesem Punkt hat die Argumentation nicht funktioniert, weil sie schlicht falsch war. Dass die Stimmbürger*innen das für einmal durchschaut haben, zeigen die hohen Zustimmungswerte zur Intitiative gerade auch unter jüngeren Leuten. Auch das ist keine Sensation, sondern ein Grund zur Freude.

Erwerb von Liegenschaften in der Stadt Bern

In der Stadt Bern haben 64,1% der Stimmenden der Initiative zur Einführung einer 13. AHV-Rente zugestimmt. Eine fast so hohe Zustimmung fand auch die städtische Vorlage über den Erwerb von Immobilien am Wildhainweg. Mit diesem Kauf kann die Stadt diese Liegenschaften der Spekulation entziehen und sie für eine aktive Wohnbaupolitik verwenden.

SVP, FDP und GLP hatten die Vorlage mit den Behauptungen bekämpft, das sei alles viel zu teuer und es sei ohnehin nicht Sache der Stadt, auf Vorrat Liegenschaften zu kaufen. Auch hier wussten es die Stimmberechtigten besser: Die eigenen Erfahrungen mit fehlenden Wohnungen und immer weiter steigenden Mieten haben offenbar zur Einsicht geführt, dass eine Verbesserung der Situation nur über die gezielte Bereitstellung günstigen Wohnraums durch die öffentliche Hand erreichbar ist und die Stadt in die Lage versetzt werden muss, solchen Wohnraum anzubieten. Auch dieses Ergebnis kann durchaus als Akt der Selbstermächtigung an der Urne verstanden werden.