Gefängnis: das Wort weckt in mir schreckliche Erinnerungen. Die Bedingungen in den kommunistischen Gefängnissen im Kosovo waren furchtbar. Die politisch Gefangenen wurden geschlagen und gefoltert. Aber man sprach nur mit guten Bekannten darüber. Zu gross war die Angst.
Viele junge Albaner waren wegen politischer Aktivitäten inhaftiert. Weil sie gegen die serbische Besatzung im Land und für die Freiheit Kosovos protestiert und demonstriert hatten. Die meisten waren junge Gymnasiasten oder Studenten – auch Freunde und Bekannte von mir.
Neben Grüssen brachte mein Vater verblutete Kleider meines Bruders nach Hause. Es war fast unerträglich.
1988 wurde mein 20-jähriger Bruder verhaftet. Er war Medizinstudent in Pristina, zurzeit der Verhaftung Soldat in Banja Luka. Anfangs durfte ihn nur mein Vater besuchen. Neben Grüssen brachte mein Vater verblutete Kleider meines Bruders nach Hause. Es war fast unerträglich.
Trotzdem engagierte auch mich für die Unabhängigkeit unseres Landes. Ich wollte den Weg meines Bruders fortsetzen. Und wurde deshalb selbst verfolgt und bedroht. Dank der Organisation, in der ich aktiv war, entkam ich der Haft. Und nach drei Monaten im Untergrund gelang mir die Flucht in der Schweiz.
Heute ist das Gefängnis einer meiner Arbeitsorte. Ich begleite Anwälte beim Besuch von Häftlingen und übersetze dort. Immer wieder höre ich von Inhaftierten, dass die Bedingungen in Schweizer Gefängnisse vergleichsweise gut sind. Dennoch bin ich jeweils froh, wenn ich wieder im Freien bin.
Die meisten freuen sich auf unseren Besuch.
Der Besuch wird im Voraus angemeldet. Es braucht eine Bewilligung der Staatsanwaltschaft. Vor Ort werden wir streng kontrolliert und wir dürfen weder Telefon noch Armbanduhren auf uns tragen. Ein Wächter begleitet uns in ein kleines Besucherzimmer, dann wird der Häftling zu uns geführt. Die meisten freuen sich auf unseren Besuch. Sie sind 23 Stunden in einer Zelle eingeschlossen und erhalten kaum Besuch, weil ihre Verwandten und Bekannten in der entfernten Heimat leben.
Die Gespräche dauern eine bis zwei Stunden. Die Häftlinge sind anfangs meist nicht sehr gesprächig. Es fehlt ihnen an Vertrauen, aber auch an Kraft. Sie sind wie aus einem Traum erwacht und merken plötzlich, dass sie in einer anderen Welt leben. In einer Welt, die ihnen jede Menge Lebensmut nimmt. Trotzdem sind die meisten anständig. Die häufigste Frage ist: «Wie lange muss ich hierbleiben?» In ihren Augen lese ich die Sehnsucht nach Freiheit.
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Wenn sich die Gefängnistüren hinter mir wieder schliessen, muss ich oft gegen die Tränen kämpfen. Die meisten der Gefangenen sind jung, zum Teil nicht einmal zwanzigjährig. Hinter allen steckt ein Schicksal. Viele sind Opfer der schlechten Wirtschaftslage und einer unmenschlichen Politik in ihrem Land.
Ich kann ihre Taten nicht entschuldigen, aber ihre Situation beelendet mich. Ich denke dann: Alle haben irgendwo eine Mutter, die sie schmerzlich vermisst. Ich weiss nicht, was aus meinen Kindern geworden wäre, wenn sie ohne Zukunftsaussichten aufgewachsen wären.