Im Limmat Verlag erscheint in diesen Tagen das zweite Buch von Vincent O. Carter: «Amerigo Jones». Carter, der afro-amerikanische Autor, der ab 1953 dreissig Jahre in Bern lebte, hier schrieb, malte und Englisch unterrichte, war zu Lebzeiten als Autor nur wenigen ein Begriff. Sein 1970 in New York veröffentlichtes Bernbuch («The Bern Book – A Record of a Voyage of the Mind») blieb lange verkannt. Unter dem Titel «Meine weisse Stadt und ich. Das Bernbuch» erschien beim Limmat Verlag 2021 die erste deutsche Übersetzung. Sie wurde von der Kritik gelobt und als «Ereignis» gefeiert. Auch als Bühnenstück wurde «Das Bernbuch» ein Erfolg. Die Aufführungen wurden mehrmals verlängert. Anlässlich Carters 100. Geburtstag ist es aktuell wieder in den Spielplan genommen worden. Die Beobachtungen eines Schwarzen im damals noch praktisch ausschliesslich weissen Bern blieben aber ein Geheimtipp. Und doch: es war der Anfang einer Neuentdeckung des Autors in Bern. Und das ist massgeblich der Verdienst von Katharina Altas.
Die Literaturagentin
Ein Gemeinschaftsbüro in einem vierstöckigen Altbau im Breitenrain. Zusammen mit Architekten, Grafikern, Journalisten und einer Parlamentarierin arbeitet Katharina Altas hier. Ihr Arbeitsplatz ist unauffällig – ein Computer, viele Bücher, Papier – und sagt zunächst mal nichts über die Rolle von Katharina Altas im deutschsprachigen Literaturbetrieb aus. Die Bernerin, die sich erst 2010 als Agentin für Literatur und Übersetzungen im deutschsprachigen Raum selbstständig machte, hat in dieser kurzen Zeit bereits einigen Autor*innen zum Erfolg verholfen: Julia Weber, Sarah Elena Müller, Flurin Jecker, Joana Osman, Yusuf Yesilöz … «Ja,» sagt sie lächelnd, «ich habe wohl ein Näschen für gute Texte.»
Das war wohl auch der Grund, warum sie als Backoffice-Mitarbeiterin im Hintergrund einer international tätigen Agentur nicht glücklich wurde. Sie wollte Verantwortung übernehmen und selber entscheiden. Deshalb gründete sie 2010 ihre eigene Agentur. Damit verdient sie zwar nun nicht unbedingt mehr, «aber,» sagt sie, «ich kann selber entscheiden und genau das machen, was mir wichtig erscheint.»

Wie kam die gebürtige Deutsche mit aramäischen Wurzeln und einem türkischen Namen zu ihrer Agentur und zum Wahlberner Carter? Katharina Altas beginnt zu erzählen. Von dem kleinen Migrantenkind im Ruhrgebiet: «Ich war immer eine Leseratte. Für mich war Lesen eine Flucht in andere Welten». Trotzdem studierte sie vorerst nicht Literatur, sondern Jura. Nach ihrem Umzug in die Schweiz begann sie mit 32 Jahren als Mutter zweier Söhne ein Zweitstudium in Freiburg: Gesellschaftswissenschaften, im Nebenfach Journalistik und Religionswissenschaft. Als Sachbearbeiterin in der kirchlichen Verwaltung verdiente sie sich das Studium.
Ein dichtes Porträt des afroamerikanischen Lebens in den USA. Mit seiner Liebe zum urbanen Detail ähnelt Carter einem anderen Auswanderer: James Joyce.
Nach Abschluss der Studien suchte sie einen Job im Literaturbetrieb. Über ein Lektoratspraktikum im Unionsverlag und im Back Office einer Literaturagentur eignete sie sich Kenntnisse im Beurteilen von Manuskripten, im Aushandeln von Verträgen an und kam in Kontakt mit Autoren und Autorinnen. In dieser Zeit gelang ihr etwas, was nur Wenigen gelingt: Sie entdeckte in den unaufgefordert eingesandten Manuskripten einen Autor, der in zwölf Sprachen übersetzt wurde. Mit dieser guten Erfahrung wagte sie den Einstieg in die Selbstständigkeit. «Ein Himmelfahrtskommando» sei es gewesen, aber sie habe durchgehalten. Und habe neben der Agentur «immer noch andere Sachen» gemacht. Zum Beispiel Geschäftsführerin für eine NGO – und Politik. Katharina Altas war zehn Jahre als Vertreterin der SP im Stadtrat.
Und dann kam Carter…
Durch eine Freundin wurde sie auf Carter aufmerksam. Sie erfuhr, dass sein Bernbuch nie ins Deutsche übersetzt wurde. «Restlos begeistert» hat sie dann aber die Lektüre eines Aufsatzes von Literaturjournalist Martin Bieri, der Carter auf eine Stufe stellte mit dem grossen afro-amerikanischen Autor James Baldwin, der zur gleichen Zeit in der Schweiz über die Schweiz schrieb («Stranger in the Village»). Sie nahm Kontakt auf mit Carters Lebenspartnerin Liselotte Haas, die unweit von ihr wohnte. Die beiden haben sich sofort verstanden, und Liselotte überliess Katharina Altas eine englische Ausgabe des Bernbuchs. «Ich habe es gelesen und war immer noch total begeistert,» erzählt sie. Sie begann Verlage anzuschreiben und hatte bald zwei Zusagen. Der Limmat Verlag gab schliesslich 2021 das Bernbuch heraus. Und verlegt nun auch «Amerigo Jones», die Kindheitserinnerungen von Vincent O. Carter.

Das Manuskript für diesen Roman mit dem Arbeitstitel «Primary Colors» (Primärfarben) hatte Carter in den Sechzigerjahren in Bern geschrieben. Liselotte Haas übergab das Manuskript um die Jahrhundertwende dem US-amerikanischen Verlag Steerforth Press, dessen Verleger Chip Fleischer, ebenfalls in Kansas City aufgewachsen ist. Dieser brachte den Roman unter dem Titel «Such Sweet Thunder» im Jahr 2003 auf den Markt. Es gab gute Kritiken, aber auch dieses Buch wurde nie ein Bestseller. «Zu wenig politisch», «zu lang», «zu wenig schwarz», hiess es. Aber die beiden Frauen in Bern blieben dran.
Ein Text wie Musik
Nun also erscheint die deutsche Übersetzung des 800-seitigen Werks. Und zwar in der ungekürzten Originalausgabe und mit dem Titel «Amerigo Jones». Liselotte Haas habe sich für diesen Titel entschieden. «Primärfarben» habe ihr überhaupt nicht gefallen, erzählt Katharina Altas. Und obwohl sie persönlich sich den englischen Titel «Primary Colors» auf der deutschen Ausgabe sehr gut hätte vorstellen können, hat sie sich dem Wunsch der Lebenspartnerin gefügt. Auch der US-amerikanische Verleger war mit «Amerigo Jones» als Titel einverstanden, weil er Liselottes Wünsche respektiert. Im englischen Original heisst es «Such Sweet Thunder».

Die deutsche Ausgabe liegt nun in den Buchhandlungen. Mit einem klugen Nachwort zum N-Wort (das in der Welt der Dreissigerjahre noch ganz anders gebraucht wird) und einem Cover, für das der Schweizer Verlag das Originalbild einer Strassenszene von Kansas City der Dreissigerjahre gewählt hat. Aber vor allem in der wunderbaren Übersetzung von Pociao und Roberto de Hollanda. Sie haben Carters Alltagsprache aus dem Schwarzen Armenviertel in Kansas City genial ins Deutsche übertragen. Der Text schillert, rockt und swingt wie Musik (der englische Titel «Such Sweet Thunder» ist eine Hommage an den Jazz-Pianisten Duke Ellington), aber er ist auch umfangreiche und teilweise «schwere Kost», jedenfalls alles andere als süffig. Die New York Times Book Review schwärmte aber: «Ein dichtes Porträt des afroamerikanischen Lebens in den USA. Mit seiner Liebe zum urbanen Detail ähnelt Carter einem anderen Auswanderer: James Joyce.»
Und jetzt soll also der Nachlass von Vincent O. Carter ins Schweizer Literaturarchiv kommen, sein 100. Geburtstag wird in Bern mit der Buchvernissage von «Amerigo Jones» am 23. Juni in der Mansarde von Bühnen Bern gefeiert, von der Lincoln Universität in Pennsylvania erhält Carter im Februar 2025 posthum einen Doktortitel und im nächsten Jahr soll es im Schweizer Konsulat in New York eine Ausstellung über das Leben des Wahlberners geben.
Ein schöneres Kompliment kann es für den «First Negro in Bern» nicht geben. Und für seine zwei Fördererinnen auch nicht.
Buchvernissage «Amerigo Jones»
Sonntag, 23.06.2024, 18 Uhr, Stadttheater Mansarde
Am 23. Juni 2024 wäre Vincent O. Carter 100 Jahre alt geworden. Anlässlich dieses Geburtstags wird in der Mansarde des Stadttheaters die Vernissage von Carters Roman «Amerigo Jones» gefeiert. Das Buch erzählt die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Kansas City der 1920er- und 1930er-Jahre, Zentrum des Jazz und gleichzeitig von Rassentrennung geprägt.
Mit: Yebooa Ofosu (Moderation) und den Übersetzer*innen Pociao und Roberto de Hollanda. Es liest: Genet Zegay
Im ersten Teil haben wir Liselotte Haas portraitiert. Sie war während 22 Jahren bis zu seinem Tod die Lebenspartnerin von Vincent O. Carter. Hier geht es zum ersten Teil.