Kurz nach der Veröffentlichung der Journal B-Recherche zur Frage, ob Ferdinand Hodler am 13. März 1853 im Käfigturm geboren ist, sprach mich eine Leserin des Textes an und erzählte, sie wisse von einer Frau, die mit Sicherheit im Käfigturm auf die Welt gekommen sei: die Grossmutter ihres Ehemannes. Diese Leserin war Susanne Graf, ihr Ehemann ist der Historiker Christoph Graf, der ehemalige Direktor des Bundesarchivs. Ein Telefongespräch mit ihm ergibt Folgendes: Seine Mutter habe erzählt, seiner Grossmutter Frieda habe man als Kind «ds Chefiturm-Meiteli» gesagt, weil sein Urgrossvater Johannes Bürki-Rupp zur Zeit ihrer Geburt 1886 Gefängniswärter im Käfigturm gewesen sei.
Ein Blick in das «Adressbuch der Stadt Bern» ergibt, dass sich für 1886-1887 kein Eintrag findet, wohl aber für 1888-1889. Dort ist ein «Bürki, Joh., Gefangenenwärt. im Käfichturm» eingetragen. Um Genaueres herauszufinden, bitte ich im Stadtarchiv um Einsicht in das sogenannte «Niederlassungs-Wohnsitz-Register der Stadt Bern». Die drei grossformatigen, dicken Bände, die im Lesesaal bereitliegen, decken verschiedene Zeiträume des 19. Jahrhunderts ab. Der richtige Band ist jener mit der Signatur SAB_1125_16_6. Darin betrifft der Eintrag 269 einen Bürki, Johannes (* 1843), verheiratet mit Elisabeth (* 1842), «geb. Rupp». Beruf: «Gefangenenwärter im Käfichthurm». Wohnadresse: «67 Marktgasse» – die Marktgasse 67 ist bis heute die Adresse des Käfigturms. Dieses Ehepaar hatte vier Kinder: Johann (* 1871), Emma (* 1874), Robert (* 1876) und eben Frieda, geboren am 13. Mai 1886.
Der Polizist Johannes Bürki musste öfter umziehen. Laut dem Register ist er im April 1885 aus Münsingen zugezogen (vermutlich deshalb reichte es nicht für einen Eintrag im Adressbuch 1886-1887) und zog im April 1891 weiter nach Spiez. Laut Christoph Graf habe seine Grossmutter erzählt, später in Utzenstorf aufgewachsen zu sein.
Die erwähnte Hodler-Recherche hatten Vinzenz Bartlome, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Staatsarchivs, und Professor Hubert Steinke, Leiter des Instituts für Medizingeschichte an der Universität Bern, mit Abklärungen unterstützt. Mit den Fakten zur Geburt von Frieda Bürki konfrontiert, haben beide die gleiche Einschätzung: Es handle sich hier wohl um «eine ganz normale Hausgeburt» in der Wohnung des Käfigturmwärters. Diese Wohnung lag im Parterre des Turms und wurde 1902/03 beim Durchbruch der Fussgängerpassage zerstört.
Aus der demnach höchstwahrscheinlichen Geburt von Frieda Bürki im Käfigturm kann geschlossen werden: Die Wohnung des Gefangenenwärters war nicht eine Art Pausentreffpunkt für Stadtpolizisten, sondern eine Privatwohnung, in der mindestens zeitweise Familien gelebt haben und in der es auch zu Hausgeburten kommen konnte. Zwar ist damit nicht bewiesen, dass auch Ferdinand Hodler – von der damaligen Köchin für die Gefangenen – in diesen Räumlichkeiten geboren worden ist. Aber immerhin ist klar: Seine Geburt im Käfigturm wäre im 19. Jahrhundert nicht eine einmalige Sensation gewesen.