Für viele war der SRF-Talk zwischen Roger Schawinski und Andreas Thiel das Medienereignis des Jahres 2014. Im «Club» und bei Streitgesprächen im «Kassensturz» hast du selber solche Gespräche moderiert. Wie ordnest du das Duell Schawinski/Thiel ein?
Matthias Aebischer:
Es gibt für mich bei TV- oder Radiosendungen immer zwei Hauptebenen, eine inhaltliche und eine formale. Die inhaltliche können wir in diesem Fall abhaken, denn inhaltlich wurde nicht diskutiert. Das ist schade, denn es gäbe gerade in der heutigen Zeit viel zu sagen zur Säkularisierung oder auch zu extremen Auslegungen heiliger Schriften. Ob es wie hier den Koran betrifft oder die Bibel, ist eigentlich egal. Schade also, dass in diesem Fall die formale Ebene die inhaltliche verdrängt hat.
Bleibt die Kritik zur formalen Ebene, zum Journalistischen sozusagen. Was sagst du dazu?
Ich kenne Schawinski seit 25 Jahren. Er hat mir damals das Radiomachen bei Radio Förderband beigebracht. Einer seiner Grundsätze war, dass man top vorbereitet in eine Sendung geht. Er hat das hier nicht gemacht. Er wollte eine Sendung über den Koran beziehungsweise über eine Streitschrift zum Koran machen und hat den Koran nicht gelesen. Das gibt es ja gar nicht, habe ich mir schon während der Sendung gedacht. Ich glaube, dies war der Auslöser für seine unflätigen Bemerkungen. Er hat sich über den Fehler selbst sehr geärgert und ist dann mehrfach ausfällig geworden. Andreas Thiel seinerseits hat das genüsslich ausgekostet und immer wieder betont, dass hier einer sitzt, der über den Koran sprechen will und ihn nicht gelesen hat.
Also ein klarer Sieg nach Punkten für Thiel?
Ich habe die Sendung mit meinen Kindern zusammen ein zweites Mal angeschaut. Die 13-jährige Tochter sagte: «Eigentlich ist mir dieser Thiel auch nicht geheuer. Aber weil Schawinski so am Durchdrehen ist, wirkt er recht sympathisch.» Eine Superanalyse, finde ich.
Du kennst als Politiker und ehemaliger Journalist beide Seiten, die des Fragenden und die des Befragten. Darf man als Gast einfach die Rollen umdrehen? Das findet ja Schawinski die absolute Höhe.
Schawinski ist eine Mimose. Wer so austeilt, muss auch einstecken können. Natürlich darf man Gegenfragen stellen, ist doch klar. Beim Talk gibt es kein Regelbuch. Bei einem Zweiertalk werden ja nur Gegenfragen gestellt, wenn der Interviewer komische Sachen fragt. Ich wusste immer, dass ich Schawinski, sollte er mich einmal einladen, genau solche Gegenfragen stellen würde. Nach meinen diversen Interviews zum Thema ist eine Einladung jedoch wohl für längere Zeit vom Tisch…
Was hättest du an Schawinskis Stelle gemacht, wenn plötzlich das Gegenüber den Spiess umdreht?
Hätte er seine Beleidigungen und aggressiven Fragen zurückgefahren und genaue inhaltliche Fragen zu Textstellen des «Weltwoche»-Artikels oder des Korans gestellt, wäre Thiel sicher sachlicher geworden. Denn dann hätten Gegenfragen keinen Sinn mehr ergeben. Dies aber während der Sendung zu realisieren, ist oft sehr schwierig. Im Nachhinein ist man immer gescheiter.
Inzwischen liess Schawinski verlauten, dass er Personen, «die sich systematisch verweigern» (wie Thiel, Blancho oder Freysinger), nicht mehr einladen werde. Sind solche Kriterien legitim?
Das ist meines Erachtens eine Bankrotterklärung. Eine Talksendung zu machen und schon im Vornherein einzelne Gäste auszuklammern, geht ja gar nicht. Alle Genannten waren auch schon in andern Talksendungen und haben inhaltlich geantwortet. Also liegt das Problem nicht nur bei den Gästen. Ich möchte aber nun doch auch sagen, dass ich die Sendung nicht als die ganz grosse Katastrophe taxiere. Schawinski ist Schawinski und soll seine Sendung «Schawinski» weitermoderieren.
Kurz vor Weihnachten wurde die Wiedergutmachungsinitiative eingereicht. Du warst bei der Einreichung mit dabei. Wie stehst du dazu?
Ich bin seit Beginn im Initiativkomitee und stehe voll und ganz hinter der Initiative. Meine Grosseltern väterlicherseits waren Verdingkinder. Mein Grossvater wurde mit sieben Jahren an einen Bauern abgegeben, meine Grossmutter als Einjährige. Vor allem der Grossvater litt sehr unter dem Mutterentzug und ist als Kind mehrmals zu ihr zurückgelaufen. Es zerreisst mir auch heute noch fast das Herz, wenn ich daran denke, dass er von seiner leiblichen Mutter dann wieder auf dem Bauernhof abgegeben wurde. Beide sind gestorben. Viele Verdingkinder leben aber noch.
Es dauert ja noch zwei, drei Jahre bis die Initiative zur Abstimmung kommt. Welches politische Potenzial hat diese Initiative? Der Kreis der (zu Recht) zu entschädigenden ehemaligen Verdingkinder ist ja recht klein.
Ganz und gar nicht. Die Forschung spricht von rund 20’000 lebenden Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Die meisten von ihnen sind sehr alt, und viele leben in ärmsten Verhältnissen. Mit einer Wiedergutmachung in Form einer Abgeltung von rund 25’000 Franken pro Person müssen wir also schnell machen. Zwei, drei Jahre darf es nicht gehen. Ich hoffe deshalb auf einen raschen Gegenvorschlag, der die Hauptpunkte der Initiative aufnimmt.
Werden die Verdingkinder sogar zum Wahlkampfthema?
Ich halte nicht viel von wahltaktischen Berechnungen, welche Themen wann genau wieviel auslösen könnten. Als Journalist habe ich erlebt, dass primär Unvorhergesehenes die Wahlen beeinflusst, wie zum Beispiel Fukushima vor vier Jahren. Dann richtig reagieren, ist viel entscheidender.
Aber die Diskussion um die zweite Gotthardröhre zum Beispiel dürfte sicher ihre Spuren hinterlassen?
Ja klar, aber die Diskussion über die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative auch. Die Energiewende auch. Die Diskussion um den Lehrplan 21 auch. Nicht zu vergessen: Im Wallis hat ein geklautes Stück Stein aus einer türkischen Ruine den Wahlkampf entschieden. Politische Themen waren plötzlich nebensächlich.
Wann beginnt dein persönlicher Wahlkampf? Und weisst du schon, wie du ihn lancieren wirst?
Vor vier Jahren habe ich als Neuling einen sehr individuellen Wahlkampf gemacht. Jetzt als Bisheriger werde ich vor allem für die Partei arbeiten. Primär geht es darum, dass die SP im Kanton Bern ihre sechs Sitze halten kann. Erreichen wir dieses Ziel, wäre wohl auch ich wieder mit dabei. Den genauen Startpunkt des Wahlkampfes zu bestimmen, ist fast nicht möglich. Denn eigentlich steckt man immer im Wahlkampf.