Schauspieler*innen erzählen die älteste Geschichte – und damit ihre eigene

von Noah Pilloud 7. Juni 2022

Am 9. Juni feiert das Stück «Gilgamesh Origin» in Bern Premiere. Der Probedurchlauf der schweizerisch-palästinensischen Kooperation war bereits vielversprechend.

Kaffee, die Lebensrealitäten palästinensischer und Schweizer Schauspieler*innen sowie ein 3500 Jahre altes Versepos? Was in loser Aufzählung beliebig wirkt, wird im Stück «Gilgamesh Origin» – einer Kooperation der Theater Company thecodes und dem Al-Kasaba Theatre aus Ramallah – zu einem zusammenhängenden Ganzen.

Die sechs Schauspieler*innen auf der Bühne nutzen das Gespräch beim Kaffee, um in die älteste schriftlich überlieferte Geschichte der Menschheit einzutauchen: das Gilgamesch-Epos. Dabei streifen sie immer wieder Geschichten aus ihrem eigenen Leben. Das passiert mal subtil in der bildstarken Handlung selbst, mal explizit, wenn die Schauspieler*innen bewusst aus der Rolle fallen. Mit zunehmender Zeit vermischen sich diese Ebenen und die Geschichten.

(Foto: Noah Pilloud)

So erhält der Gilgamesch-Stoff zeitgenössische Relevanz, ohne dabei selbst aktualisiert werden zu müssen. Das tausende Jahre alte Epos verhandelt Themen, die noch heute von Bedeutung sind. «Nicht lässt Gilgamesch die Mutter zu ihrer Tochter», heisst es etwa im Originaltext. Die Geschichten der Palästinenser*innen, deren Bewegungsfreiheit durch Checkpoints oft ähnlich eingeschränkt ist, verleihen diesen Zeilen schmerzhafte Aktualität und Dringlichkeit.

Regisseur Dennis Schwabenland ist der Überzeugung, dass solche Themen nur auf der persönlichen Ebene vermittelt werden können: «Durch das Sprechen über die eigenen Erlebnisse und Lebensumstände wird die Situation für alle begreifbar.»

Proben in Ramallah

Damit ihre Schweizer Bühnenpartner*innen die Situation ebenfalls so gut als möglich begreifen können, war es den palästinensischen Schauspieler*innen wichtig, einen Teil der Proben in Ramallah abzuhalten. Nachdem die Kooperation 2019 über ein Stipendium von Pro Helvetia Kairo zustande gekommen war, fielen diese Reisepläne zuerst pandemiebedingt ins Wasser und die ersten Begegnungen fanden virtuell statt. Ende April dieses Jahres war es dann aber soweit und die ersten gemeinsamen Proben fanden in Ramallah statt.

Eindrückliche Tage für alle Beteiligten. Auch für den in Rothrist lebenden Musiker Wael Sami Elkholy. Er beschreibt das sonderbare Erlebnis: «Als Ägypter ist es für mich eigentlich nicht möglich, das Land zu bereisen – als Schweizer hingegen durfte ich einreisen.» Somit fand sich Elkholy in zwei Welten wieder: Der Schweizer Pass verlieh ihm Privilegien und doch hatte er das Gefühl, wegen seines arabischen Namens vorsichtiger sein zu müssen.

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Auch der Berner Schauspieler Dominik Gysin sah sich plötzlich mit den eigenen Privilegien und einer bisher unvorstellbaren Lebensrealität konfrontiert: «Das war für mich eine emotionale Waschmaschine.» Die latente Gegenwart der Besatzungstruppen, sich unter ständiger Beobachtung fühlen und doch zu wissen, dass ihm dies als Schweizer Tourist kaum Probleme bereiten wird, beschäftigte Gysin und seine Kolleg*innen aus der Schweiz.

Die Reise der Palästinenser*innen nach Bern war nicht minder herausfordernd. So wurden die Arbeitsvisa erst einen Tag vor Abreise genehmigt. Danach hatten aufgrund unterschiedlicher Papiere nicht alle dieselbe Route. «Einige wenige durften bequem von Tel Aviv per Direktflug anreisen, wir anderen waren über Amman und Istanbul um einiges länger unterwegs», erzählt der Co-Regisseur Firas Abu Sabbah.

(Foto: Noah Pilloud)

In Bern angekommen, war die Umstellung nicht nur für die Schweizer Rückkehrer*innen schwierig. «Yasmin erzählte mir, dass sie in Europa Anfangs immer Mühe mit den Augen hat», sagt Gysin. Im Westjordanland ist es sich die die Schauspielerin Yasmin Shalaldeh gewohnt, ihren Blick auf alles zu konzentrieren, was sich in unmittelbarer Nähe befindet. Was weiter weg ist, spielt für sie wegen der eingeschränkten Bewegungsfreiheit keine Rolle. In Bern musste sie sich erst wieder daran gewöhnen, in die Weite zu schauen.

Wie ein Gespräch unter Freund*innen

In Ramallah und Bern erarbeitete die Gruppe das Stück zum Grossteil selber. Als Basis diente der Originaltext des Gilgamesch-Epos sowie Texte, die der Autor Daniel Mezger bereits vorbereitet hatte. Vieles entstand aber aus der Improvisation und dem gemeinsamen Prozess des Teams.

So flossen die Erfahrungen aus dem Austausch und persönliche Geschichten der Schauspielenden mit ein. Neben den Leben unter einer Besatzungsmacht behandelt das Stück Erfahrungen mit Rassismus, den Umgang mit Geschlechterrollen und -identitäten und sexueller Orientierung. Es geht ferner um Macht, Freundschaft und Verlust.

(Foto: Noah Pilloud)

Läuft das Stück somit nicht Gefahr, völlig überladen zu wirken? Nein findet Dennis Schwabenland: «Das hängt ja alles irgendwie zusammen und all die Themen sind bereits im Originaltext angelegt.»

Tatsächlich wirkt das Stück beim Probedurchlauf weder überladen noch schwerverdaulich. Dem Team ist es gelungen, einen leichten, zugänglichen und humorvollen Umgang zu finden. «Es ist wie bei einem Gespräch über Gott und die Welt unter Freund*innen», sagt Gysin, «Mal ist der Ton ernst, dann reisst jemand einen Spruch und plötzlich ist es wieder lustig.»

Die Chancen stehen gut, dass das Berner Publikum dieses Spiel zwischen Ernsthaftigkeit und Humor, zwischen Originaltext und persönlichen Geschichten zu schätzen weiss. Danach sind Aufführungen in Basel, Winterthur, Ramallah und eine Tour in anderen arabischen Ländern geplant.