Schauplätze kolonialer Verstrickungen

von Simone Prodolliet 9. Februar 2021

Was hat Bern mit Kolonialismus zu tun? Inwiefern prägt koloniales Erbe auch unser Quartier? Ein neuer Stadtplan führt zu den Spuren in Bern – auch in der Länggasse.

«Es liegt wohl in der Natur der Menschen, dass sie lieber jene Geschichten erzählen, die ihnen schmeicheln, als andere, bei denen sie weniger gut herauskommen», sagte Stadtpräsident Alec von Graffenried an der Vernissage des online-Stadtplans «bern-kolonial». Diese Feststellung gelte auch für die Gesellschaft als Kollektiv, die die Vergangenheit zu beschönigen pflege. Aber auch die andern, die nicht erzählten Geschichten, gehören zu einer Gesellschaft. Der schweizweit erste Stadtplan dieser Art führt an Schauplätze, wo an solche bislang «nicht erzählte Geschichten» erinnert wird.

Schokolade und Baumwolle aus dem transatlantischen Handel

Für das Länggassquartier werden mehrere Orte kolonialer Vergangenheit aufgeführt: UniTobler, Felsenau, Obergericht des Kantons Bern, Grosse Schanze und Bierhübeli. Zu jedem dieser Orte gibt es auf dem Stadtplan, der nur online unter www.bern-kolonial.ch verfügbar ist, erklärende Texte. Sie verweisen auf die historischen Hintergründe und stellen den Bezug zu damaligen kolonialen Verbindungen her. Dass im heutigen Gebäude der Universität, dem Standort UniTobler, früher Schokolade produziert wurde, dürfte den meisten in der Länggasse Wohnhaften geläufig sein. Weniger präsent sein dürfte hingegen, dass die Kakaobohnen durch Sklaven angebaut und geerntet wurden und durch den transatlantischen Handel in die Schweiz gelangten.

Die Spinnerei in der Felsenau ihrerseits verarbeitete Baumwolle, das durch Sklavenarbeit gewonnene «weisse Gold», wie die weissen Fasern auch genannt wurden. Die 1864 gegründete Spinnerei war damals die drittgrösste Baumwollspinnerei des Landes. 1870 beschäftigte sie 450 Arbeitskräfte, vor allem Frauen, die zu prekären Bedingungen mit einem 13-Stunden-Arbeitstag an 55’000 Spindeln arbeiteten. Die Baumwolle wurde aus den Plantagen der amerikanischen Bundesstaaten Texas, Mississippi und Kalifornien sowie aus Mexiko und Brasilien importiert.

«Völkerschau» im Bierhübeli

Im 19. Jahrhundert entstand im Zuge des Kolonialismus ein Geschäftszweig, der sich der Zurschaustellung «primitiver Völker» widmete. Gegen ein Entgelt konnten Menschen aus fernen Ländern bestaunt werden. In Zürich etwa lockte 1885 die «Carl Hagenbecks anthropologische-zoologische Singhalesen-Ausstellung» über 10’000 Schaulustige an. Völkerschauen gab es auch anderswo in der Schweiz, unter anderem in den diversen Zoos, die in jener Zeit angelegt wurden. An der Schweizerischen Landesausstellung von 1896 in Zürich gab es neben einem «Village suisse» auch ein «Village noir», wo 230 Frauen, Männer und Kinder aus dem Sudan zur Schau gestellt wurden.

Auch in Bern liess man sich das lukrative Geschäft der «Völkerschau» nicht entgehen. 1903 gastierte im Bierhübeli die «Togomandigo-Truppe» des togolesischen Schaustellers und Impresarios Nayo Bruce. Der Anlass war offenbar ein schlagender Erfolg. Das Berner Tagblatt berichtete: «Es bietet dieselbe (d.h. die Schau) originelle Abwechslung in Tänzen und Gesang, Nationalgesängen, Huldigungen vor dem König von Togo, Tanz und Gesängen der jungen Mädchen, die Abendspiele, Fest- und Kriegstänze. Der Besuch ist ein ausserordentlich grosser, so dass die Räume des Restaurants zum Bierhübeli bei den letzten Vorstellungen voll besetzt waren.»

Beginn von Solidaritätsbewegungen

Ein weiterer Standort, an dem koloniale Verbindungen Thema waren, ist das Obergericht des Kantons Bern. Allerdings steht einer der Gerichtssäle des Obergerichts nicht für zweifelhafte Aktivitäten, sondern für einen Ort des Widerstands. Dort wurde erstmals in einem international für Aufsehen erregenden Gerichtsverfahren zur Kampagne «Nestlé tötet Babys» verhandelt. Die in Bern gegründete «Arbeitsgruppe Dritte Welt», eine der Vorläuferinnen diverser Gruppierungen, die sich auch heute noch für faires und verantwortungsvolles Handeln internationaler Konzerne einsetzen, war 1974 von Nestlé wegen übler Nachrede angezeigt worden. Die Kampagne warf Nestlé vor, das Unternehmen verkaufe unter dem Deckmantel der «Entwicklungshilfe» in den Ländern des globalen Südens gesundheitsschädigende Babynahrung und halte Mütter vom Stillen ab. Wenn kein sauberes Trinkwasser zur Verfügung stehe, würden Säuglinge erkranken oder sterben. Die Gruppe musste sich vor dem Obergericht des Kantons Bern verantworten und wurde schuldig gesprochen, musste aber nur eine relativ geringe Geldbusse bezahlen.

 

«Der Stadtplan regt dazu an, mit andern Augen auf die Geschichte des Quartiers zu blicken.»

 

 

Weitere Orte mit Bezug zur Kolonialgeschichte aus der gesamten Stadt finden sich auch in andern Quartieren Berns. Einige Beiträge, etwa derjenige zur Grossen Schanze, wo anhand des Denkmals von Albrecht von Haller der Mythos einer heilen und in sich geschlossenen Schweiz thematisiert werden soll, sind noch in Arbeit… Der Stadtplan regt aber so oder so dazu an, mit andern Augen auf die Geschichte des Quartiers und der Stadt Bern zu blicken.

Quelle: Länggassblatt Januar 2021