«Rhythmus ist überall»

von Jessica Allemann 11. November 2012

Seine musikalische Heimat liegt dort, wo sich Musik und Glaube überschneiden. Und doch scheint ihn der Verstand manchmal beinahe um seine Gefühle zu bringen: Matthias Hochstrasser, Musiker und Komponist, Wirtschaftsstudent und Dirigent.

Den schweren Rucksack geschultert, mit einer Jeans, die eine Nummer zu gross ausfällt, und einem über das Kapuzenshirt gestreiften Kapuzenpulli gekleidet, sitzt Matthias Hochstrasser im Bus. Er liest nicht, er hat keine Kopfhörer in die Ohren gestöpselt, sitzt nur da, um bald aufzustehen und auszusteigen. Dass der eher unscheinbare junge Mann an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern immatrikuliert ist, möchte man nicht bezweifeln. Dass er mit seinen 25 Jahren das Jazzdiplom in der Tasche, die eigene CD im Onlineshop und nun schon fast zehn Jahre Chorleitererfahrung hat, ist hingegen erst so richtig nachvollziehbar, wenn er in der Thomaskirche auf dem Podest vor dem 50-köpfigen Gospelchor Liebefeld steht, und dieser seinen auf einmal gar nicht mehr zurückhaltenden Gesten entlang singt (und dessen Sängerinnen und Sänger ihn liebevoll «den Chef» nennen).

Auf eine bemerkenswert unaufgeregte und bescheidene Art erzählt er im Unterrichtszimmer 2 des Kirchgemeindehauses, dass es ein Vorteil ist, aufgrund des Altersunterschieds automatisch der «Outsider» zu sein, wie er in Afrika den Rhythmus gefunden und über die Jahre hinweg den Glauben an christliche Werte nicht verloren hat. Seine musikalische Heimat liegt dort, wo sich der Glaube mit Musik vermengt – und doch scheint ihn der Verstand manchmal beinahe um seine Gefühle zu bringen – in der Musik wie im Glaube.

Matthias Hochstrasser:

«Eine Melodie funktioniert in der Regel nicht ohne Rhythmus. Umgekehrt kann ein Rhythmus alleine aber schon viel. Die Melodie ist meistens auch nicht das Problem, aber den Sängerinnen und Sängern den ‘Groove’ beizubringen, ist das Kniffligste bei der Chorleitung. Der Zugang zum amerikanischen Gospel liegt uns nicht einfach so im Blut. Vielleicht ändert sich das mit der Zeit. Die heutige Musik ist so ‘überschlagzeugifiziert’, dass die Jungen das Rhythmusgefühl deshalb schon eher intus haben als noch ältere Generationen. Solange es im Chor aber nicht von alleine kommt, würde ich die Leute am liebsten dazu zwingen, zu trommeln, so wie ich das als Kind immer und überall gemacht habe. Durchs Trommeln auf dem Schulpult hat sich mir der Rhythmus im Gefühl eingenistet. Eigentlich muss uns nur bewusst werden, dass jeder in seinem Alltag von den kompliziertesten Rhythmen umgeben ist. Wenn man zum Beispiel eine Strasse entlang geht, gibt der regelmässige Schritt den Takt vor, der Offbeat liegt im höchsten Punkt des angehobenen Beins – ist doch einfach?

Dass ich um einiges jünger bin als die meisten Chorsängerinnen und Chorsänger – und als die anderen Dirigenten sowieso – liegt auf der Hand. Ich hatte aber noch nie ein Problem damit, Leute anzuführen. Es ist für mich sogar einfacher, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die ein paar Jahre älter sind als ich. Unter Gleichaltrigen ist es letztlich schwieriger, mich abzuheben. Dadurch, dass ich immer einer der Jüngsten bin, bin ich automatisch der ‘Outsider’, was der Dirigentenrolle zugute kommt. Die Rollenverteilung in den Chören ist ausserdem so zementiert, dass es keine Rolle mehr spielt, wie alt man ist, sobald man vor dem Chor auf dem Podest steht und dirigiert.»

In Afrika den Rhythmus finden

«Ich bin in Lyss aufgewachsen und habe Unterricht in Ukulele und Blockflöte genommen – was man halt so an musikalischer Vorbildung macht. 

«Am Anfang habe ich Harmonien mehr berechnet als gefühlt. Erst nach einigen Semestern habe ich sie auch im Gefühl begriffen.»

Matthias Hochstrasser, Dirigent Gospelchor Liebefeld.

Als 11-Jähriger bin ich mit meiner Familie nach Afrika gereist, um meinen Onkel zu besuchen. Er war als Missionar in Burkina Faso. Die Reise dauerte drei Wochen, es fühlte sich an wie ein ganzes Jahr. Die unvorstellbar grosse Armut, die ich dort begegnete prägte mich ebenso wie die faszinierenden Rhythmen und Klänge. Wir haben einen Djembe-Bauer kennen gelernt, von dem mir meine Eltern ein Djembe anfertigen liessen. Er zeigte mir, wie man darauf spielt und schrieb mir lange nach unserer Abreise noch regelmässig Briefe. Ich habe mit dem Trommeln nicht mehr aufgehört und wollte Schlagzeug oder Saxophon spielen lernen. Weil wir in einem Mehrfamilienhaus wohnten, erhielt ich Saxophon-Unterricht.

Am Gymnasium in Biel wechselte ich noch im ersten Jahr das Schwerpunktfach Physik und Mathematik zu Musik weil mir klar wurde, dass ich nach der Matura an die Swiss Jazz School in Bern gehen wollte. Die Mathematik hat mich aber auch an der Jazzschule nicht losgelassen: Am Anfang habe ich Harmonien mehr berechnet als gefühlt. Erst nach einigen Semestern habe ich sie auch im Gefühl begriffen.»

Beim Wirtschaftsstudium Luft holen

«Das Studium in Saxophon und Komposition habe ich vor gut einem Jahr abgeschlossen. Nur eine Woche nach dem Master-Abschlusskonzert an der Jazz School bin ich als Erstsemesterstudent in einem Vorlesungssaal der Uni Bern gesessen. Das war schon ein krasser Wechsel. Die Jazz School war sehr anstrengend. Ich brauchte etwas Luft. Die hole ich jetzt an der Uni beim Wirtschaftsstudium. Die Mathematik-Vorlesungen, die Teil des Wirtschaftsstudiums sind, geniesse ich ganz besonders. Hier gibt es immer eine Lösung. Etwas ist richtig oder falsch – man hats begriffen, oder nicht. In der Musik gehst du an deine Leistungsgrenzen, immer im Wissen, dass noch mehr möglich ist, und im Zweifel darüber, ob es anders vielleicht noch besser wäre.

Ich möchte die Wirtschaft, die unser Leben bis ins kleinste Detail beeinflusst, verstehen. Auch um die Aussagen aus Politik und Ökonomie besser einordnen oder nötigenfalls relativieren zu können. Das Wirtschaftsstudium ist auch ein Schritt in eine berufliche Zukunft neben der Musik. Die Musik wird immer ein wichtiger Teil von mir bleiben, aber ich möchte mich nicht ausschliesslich in diesem manchmal schon etwas weltfremdem Umfeld bewegen. Ich interessiere mich noch für viele andere Dinge – und meistens für das, was ich gerade nicht mache. Nach dem Studium möchte ich mich beruflich im karitativen Bereich engagieren. Volks- und Betriebswirtschaft bilden dazu eine gute Basis. Denn Sozialengagement und gute Vorsätze alleine bewirken oft nicht das, was eigentlich gewollt war.»

Am Glaube festhalten

«Im Gospelchor Liebefeld singen Menschen mit ganz unterschiedlichen Einstellungen zur Spiritualität. Leute, die ein Problem haben mit Religion, werden kaum Gospellieder singen wollen, aber es gibt jene, welche die religiösen Inhalte der Lieder tolerieren und jene, welche vom christlichen Glauben sehr überzeugt sind. Ich sehe mich selber irgendwo in der Mitte.

«Wie die Musik müsste auch der Glaube nicht vom Verstand, sondern vom Gefühl geleitet sein.»

Matthias Hochstrasser, Dirigent Gospelchor Liebefeld.

Ich bin in einem sehr gläubigen Umfeld aufgewachsen und nach wie vor sehr interessiert am christlichen Glaube. Dieser steht für mich für das Partei ergreifen zugunsten Benachteiligter ebenso wie für eine Hoffnungsbotschaft und für das Demütigsein dafür, was wir haben und was wir allzu oft einfach als gegeben annehmen. Ich bin aber kein Verfechter von leidenschaftlichen Religionsdisputen. Mein Zugang zum Glaube ist im Moment eher rational – was es eigentlich nicht sein sollte. Wie die Musik müsste auch der Glaube nicht vom Verstand, sondern vom Gefühl geleitet sein.»

Fürs Publikum spielen

«Das einstudierte Programm für die Jahreskonzerte besteht aus zeitgenössischem Gospel von Künstlern wie zum Beispiel Kirk Franklin und Israel Houghton. Die Songs sind sehr rhythmisch und enthalten viele Hip-Hop- und R&B-Elemente. Es ist quasi der musikalische Ort, an dem der Soul und der R&B in den Gospel zurückgekehrt sind, nachdem beide Stile zuvor aus dem Gospel heraus entstanden sind. Dort liegt meine musikalische Heimat. Natürlich habe ich daneben viele schöne Ferienorte wie die Klassik, den Pop und den Jazz. Die Grenzen zwischen den Musikrichtungen lassen sich ja auch nicht so einfach ziehen.

Über das Repertoire des Chors wird ganz demokratisch entschieden. Ich bringe Ideen ein, zwänge aber nichts auf, verstehe mich als Dienstleister und will nicht in erster Linie meine persönlichen Ideen verwirklichen: Die Leute engagieren mich, also mache ich das, was ihnen entspricht. Wäre es umgekehrt, müsste ich ja sie bezahlen. Das gilt auch gegenüber dem Publikum. Für mich ist es wichtig, dass man nicht am Publikum vorbei spielt. Wenn irgendeine ‘abgespacte’ künstlerische Freiheit über alles andere gestellt und gleichzeitig das, was dem Publikum gefällt von vornherein abgewertet wird, ist das nicht in Ordnung. Für mich ist Gospel genauso Kunst wie das, wofür in der Regel eher Fördergelder gesprochen werden.»