RGM: Positive Effekte einer chronischen Krise

von Christoph Reichenau 6. September 2016

Seit 24 Jahren wird Bern vom RGM-Bündnis der Rot-Grün-Mitte-Parteien regiert: Warum es in dieser Zeit zur reinen Wahlplattform verknöchert ist und wie bisher mehr hätte erreicht werden können. – Gespräch mit Heinz Däpp (Teil II).

Journal B: In den städtischen Wahlen vom 6. Dezember 1992 kippten die Mehrheitsverhältnisse: Der bürgerliche «Vierer mit» verlor die Mehrheit an das RGM-Bündnis der Rot-Grün-Mitte-Parteien.

Heinz Däpp: In den Gemeinderat gewählt wurden von unserer RGM-Fünferliste Klaus Baumgartner – der gleichzeitig Stadtpräsident wurde –, Alfred Neukomm, Joy Matter und Therese Frösch. Dazu kamen von bürgerlicher Seite Theres Giger, Josef Bossart und Kurt Wasserfallen. Die Freude war riesig, dass wir gewonnen hatten und am Wahlfest im «Jardin» herrschte eine euphorische Stimmung. Allerdings kam danach der Alltag und man musste schnell feststellen, dass der RGM-Anspruch der politischen Wirklichkeit nicht standhielt: RGM brauchte Strukturen. Unser Beratungsgremium entwarf deshalb ein überparteiliches Statut mit der Stossrichtung, dass die Befindlichkeiten der Parteien zurückstehen sollten im Interesse einer Gesamtbefindlichkeit des Bündnisses.

Hatte Eure Beratungsgruppe denn unterdessen ein formelles Mandat?

Nach den Wahlen wurden wir als Gremium offiziell gewählt.

Mit Entlöhnung?

Äuä, an den Parteikonferenzen haben wir sogar unsere Konsumation selber bezahlt! Wir hatten die Anerkennung jener Leute, die unsere Arbeit geschätzt haben. Aber das waren eben bei RGM nicht alle… Als erstes schlugen wir eine Parteienkonferenz vor, eine Art Delegiertenversammlung der RGM-Parteien, die in der ersten Zeit recht gut funktionierte und jeweils am Samstag stattfand. Dann initiierten wir einen leitenden Ausschuss mit Einer- oder Zweiervertretung aus allen Parteien, sehr wichtig war hier Pierre Siegrist vom Grünen Bündnis. Zudem war eine Konferenz der RGM-Gemeinderäte und -Gemeinderätinnen vorgesehen. Dem Stadtpräsidenten Baumgartner, der den Gemeinderat kompetent, aber auch autoritär, um nicht zu sagen autistisch geleitet hat, war RGM aber so lang wie breit. Das hat zwar auch die beiden RGM-Gemeinderätinnen geärgert, aber geändert hat es nichts. Baumgartner war alte Schule: Dr Maa seit wodüre, fertig. Und die Frauen führten zwar ihre Direktionen kompetent und verkauften sich gut gegen aussen – aber Einfluss auf Baumgartner und ein Sensorium für den Gesamtgemeinderat hatten sie nicht. Dass in dieser ersten Legislatur die Frauenfraktion im Gemeinderat so stark wurde, hat übrigens viel damit zu tun, dass die Chemie zwischen Matter, Frösch und der Freisinnigen Theres Giger stimmte.

Weitere RGM-Strukturelemente, die wir vorschlugen, kamen nicht zustande, die Konferenz der Fraktionspräsidenten und -präsidentinnen zum Beispiel oder die geplanten interfraktionellen Sitzungen.

Ihr habt Euch aber auch viel vorgenommen.

Wir haben uns wirklich engagiert und viel gearbeitet, haben die Parteienkonferenzen geleitet und laufend Berichte verfasst. Ich nehme für uns in Anspruch, dass wir wirklich gute Büez gemacht haben. Trotzdem scheiterte Vieles, was wir anzureissen versuchten. Mitte der ersten Legislatur, 1994, haben wir über einen unserer Berichte den Titel gesetzt: «RGM n’existe pas». Das ist nicht wenigen auf die Nerven gegangen. Aber wir hatten eben grössere Ansprüche an das Bündnis als die Leute in den einzelnen Parteien.

Übrigens wollten wir auch eine Schlichtungsstelle einrichten, die bei inhaltlichen Differenzen zwischen den Parteien aktiv geworden wäre. Differenzen sind schnell aufgetaucht, aber die Schlichtungsstelle hat’s nie gegeben, obschon sie wie alles andere auch in unserem Statut festgeschrieben war, das die Parteigremien im April 1993 verabschiedeten.

Gibt es dieses RGM-Statut noch heute?

Gehört habe ich nie mehr etwas davon. Aber gut, unsere Beratungsgruppe hat ihre Arbeit nach zwei Legislaturen, im Winter 2000/2001, beendet. Sicher ist, dass man das Gremium nicht neu besetzt hat. Aus heutiger Sicht muss ich sagen: Eigentlich war RGM dauernd in der Krise. Es gab nie ein RGM-Gemeinschaftsgefühl. Alle Parteien dachten zuerst an sich. Die Kommunikation zwischen den Parteien funktionierte nie richtig, und das Bündnis war mehrmals am Auseinandergefallen.

Hast Du ein Beispiel?

Nach der ersten Legislatur, 1995, haben zum Beispiel einzelne Mitglieder der Mitte-Parteien, GFL und EVP, nicht mehr mitmachen wollen. Nach der zweiten Legislatur forderte die SP wegen der erfolgreichen Nationalratswahlen zuvor wieder einen dritten Sitz im Gemeinderat und setzte sich diesmal durch. Die Sozialdemokratin Edith Olibet drückte die Landesring-Gemeinderätin Claudia Omar aus der Schuldirektion. Der von der Grösse her nicht unbegründete Hegemonieanspruch der SP führte immer wieder zu heiklen Situationen. Und wir mussten jeweils mahnen: Wenn ihr euch nicht wieder zusammenrauft, dann können wir RGM und damit die linke Mehrheit vergessen. Dieses Argument hat jeweils den Ausschlag gegeben. Wie neuerdings wieder rund um diese unerfreuliche von Graffenried-Geschichte.

Man raufte sich also jeweils nicht im Interesse eines bestimmten politischen Programms zusammen, sondern um die Macht zu erhalten.

Das stimmt sicher auch, aber ich gehe nicht soweit zu sagen, es sei jeweils nur um den Machterhalt gegangen. Es ging schon immer auch um Sachpolitik. Und wenn ich mir überlege, was RGM in den letzten vierundzwanzig Jahren erreicht hat, dann ist das nicht nichts. Vor allem konnte die aufgegleiste bürgerliche Steuersenkungs- und Sozialabbaupolitik tatsächlich blockiert werden – auch später, als die bürgerliche Opposition mehrmals das Budget zur Ablehnung empfahl und sogar zwei-, dreimal die Volksabstimmung gewann.

Das ist das eine. Erfolge sehe ich daneben in der Verkehrspolitik, zum Beispiel bei verkehrsberuhigten Quartierstrassen, in der Umweltpolitik, in der Kultur, in der Bildungspolitik, Krippen, Tagesschulen, in der Integrations- und der Gleichstellungspolitik, übrigens auch für behinderte Menschen, oder in der Wohnbaupolitik, wo es zum Beispiel gelungen ist, das Projekt in Bern-Brünnen zu deblockieren… Es ist schon einiges gegangen.

Zudem muss man auch sagen: RGM hat nie so funktioniert wie zwischen 1985 und 1992, als der Planungs- und Baudirektor im Gemeinderat, Marc Roland Peter (SVP), den Spruch prägte: Itz wird dürezoge!

Das Beratungsgremium Kaufmann/Seitz/Däpp war während der ersten beiden RGM-Legislaturen aktiv. Warum habt ihr 2000/2001 aufgehört?

Es war schon so, dass RGM aus unserer Sicht immer mehr auseinanderflatterte und unser Gremium immer weniger konsultiert wurde. Die Parteienkonferenz hat zum Beispiel immer seltener stattgefunden. Später ist RGM, soweit ich sehe, immer mehr zum reinen Wahlbündnis geworden. Inhaltliches spielt kaum mehr eine Rolle.

Man ist vor den Wahlen bei RGM, und danach macht man wieder, was man will?

Das ist pointiert gesagt, aber falsch ist es nicht.

Ist es vor den Wahlen 2016 anders?

Nein. Und ich finde es schade, dass es so ist. Es geht viel Energie dadurch verloren, dass die Parteien nicht miteinander reden.

Was wir zum Beispiel immer wieder gesehen haben: Dass die SP das Grüne Bündnis mit unabgesprochenen Aktionen brüskiert hat. Die RGM-Seite des Stadtrats war zeitweise nahezu paralysiert. Auch deshalb kam es zu häufigen Absenzen und frühen Rücktritten. Viele fragten sich: Was soll ich jeden Donnerstagabend doppelt- und dreifachbelastet und quasi ehrenamtlich all die Ratssitzungen absitzen, wenn doch kaum etwas herausschaut?

Natürlich nicht nur, aber auch deshalb hat die Bedeutung des Stadtrates abgenommen, seine ehemals hohe Reputation sinkt. Und weil die Belastung in den Milizparlamenten neben Beruf und Familie enorm geworden ist, fühlen sich die Räte und Rätinnen immer mehr überfordert. Kommt dazu, dass die Medien ihren demokratiepolitisch wichtigen Auftrag, über die Stadtratssitzungen zu berichten, seit vielen Jahren kaum mehr wahrnehmen und die Sitzungen fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.

Trotz all dem, was ja wenig mit RGM zu tun hat, meine ich: Hätte das Bündnis stärker und kontinuierlich an einer gemeinsamen Sachpolitik gearbeitet, wäre in den sechs Legislaturen seit 1992 mehr zu erreichen gewesen.