Regierungsrat läuft vor Verwaltungsgericht auf

von Redaktion Journal B 29. Juni 2022

In einer öffentlichen Urteilberatung hat das Verwaltungsgericht des Kantons Bern heute entschieden, dass die Kürzung des Grundbedarfs in der Sozialhilfe von vorläufig aufgenommenen Ausländer*innen von fast 30% gegenüber dem regulären Ansatz unzulässig ist. Dies hatte der Regierungsrat per Verordnung bestimmt.

Wer in die Schweiz flüchtet, ist nicht unbedingt Flüchtling – auch wenn im Heimatland dieser Person Krieg herrscht. Flüchtling im Rechtssinn ist nur, wer individuell verfolgt wird und nicht, wer «schlicht» vor Gewalt flüchtet. Diese Unterscheidung hat weitreichende Folgen: Während Flüchtlinge im rechtlichen Sinn in der Schweiz Asyl und damit eine reguläre Aufenthaltsbewilligung B erhalten, dürfen die Übrigen lediglich darauf hoffen, vorläufig aufgenommen zu werden und eine sogenannte F-Bewilligung zu erhalten. Letztere ist mit einer deutlich schwächeren Rechtsstellung verbunden. Zum Beispiel sieht das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) vor, dass ihr Sozialhilfeansatz unter dem Ansatz der einheimischen Bevölkerung liegen muss. Die genaue Ausgestaltung ist dabei jedoch den Kantonen überlassen.

Der Regierungsrat hatte sich entschieden, den Ansatz für den Grundbedarf – das ist jener Teil der Sozialhilfe, der den grundlegenden Lebensunterhalt decken soll (z.B. Nahrungsmittel, Kleidung, Energieverbrauch etc.) – für Inhaber*innen einer F-Bewilligung gegenüber dem Ansatz für Schweizerinnen und Schweizer um rund 30% zu kürzen. Mehrere Sozialhilfebezüger*innen erhoben daraufhin Beschwerde bei den für sie zuständigen Regierungsstatthalter*innen und erhielten Recht.
Einige Entscheide zogen die Gemeinden daraufhin weiter an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, das heute zwei Fälle exemplarisch in einer öffentlichen Urteilsberatung mündlich behandelte. Beide Fälle spielen in der Gemeinde Biel und betreffen Personen, die bereits sehr lange in der Schweiz leben: eine Frau, die 2008 in die Schweiz kam und seit 2011 vorläufig aufgenommen ist sowie einen Mann, der bereits 2001 in die Schweiz kam und seit 2003 vorläufig aufgenommen ist.

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«Vorläufige» Aufnahme

Die vorläufige Aufnahme ist, wie es der Name vermuten lässt, als vorübergehende Lösung konzipiert. Das Gericht betont mehrfach, dass es sich dabei nur um eine Verrechtlichung der Unmöglichkeit der Wegweisung handelt und nicht um einen regulären Aufenthaltsstatus. Vorläufig aufgenommene Menschen sind mit anderen Worten unerwünscht und sollten die Schweiz verlassen. Sie werden jedoch geduldet, weil sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht in ihre Heimat zurückkehren können oder wollen.

Jedoch ist die vorläufige Aufnahme für viele Menschen alles andere als «vorläufig». Stattdessen verharren sie über Jahre oder gar Jahrzehnte darin, ohne Aussicht auf Rückkehr in ihr Heimatland. In den beiden Bieler Fällen lagen vorläufige Aufnahmen von elf resp. 19 Jahren vor. Damit schälte das Gericht, nachdem es anfänglich festgestellt hatte, grundsätzlich sei ein tieferer Sozialhilfeansatz für vorläufig Aufgenommene bundesrechtskonform, den Kern des Problems heraus: Ab welchem Zeitpunkt überflügelt die faktische Aufenthaltsdauer den Status? Wann rechtfertigt sich keine (oder zumindest keine signifikante) Ungleichbehandlung der vorläufig Aufgenommenen mehr?

Kürzung verliert Wirkung

Die Richter*innen argumentierten im Wesentlichen, dass bei einem langjährigen Aufenthalt ab zehn Jahren davon auszugehen sei, dass dem Bestreben, eine Person beruflich und sozial zu integrieren erhebliches Gewicht zukomme. Auch der Bund formuliere die Integration von langjährigen Inhaber*innen einer F-Bewilligung als Auftrag an die Kantone. Die Integration sei aber mit einem so kleinen Budget massiv erschwert.

Die Richter*innen spielten auf das soziale Existenzminimum an, wonach den Bezüger*innen nicht nur die Existenzsicherung, sondern auch die Teilnahme am sozialen Leben ermöglich werden soll. Zudem wiesen sie darauf hin, dass eine Reduktion von 30% drastisch sei: So ist in der «regulären» Sozialhilfe eine Reduktion um 30% nur bei wiederholten Pflichtverletzungen und nur zeitlich begrenzt zulässig.

Es ist fraglich, was mit der Kürzung überhaupt noch erreicht wird.

Dem tieferen Ansatz lägen drei Anreize zugrunde, erwog das Gericht. Erstens wolle man den «Zuzug» von Ausländer*innen verhindern und vorläufig aufgenommene dazu bewegen, das Land wieder zu verlassen. Zweitens wolle man die Betroffenen dazu bewegen, eine Erwerbsarbeit anzunehmen. Und drittens bestehe auch ein fiskalisches Interesse, die Ausgaben des Staates gering zu halten, wo dies möglich sei.

Die ersten beiden Anreize verlören jedoch mit langjähriger Anwesenheit erheblich an Wirkung. So sei es den vorläufig Aufgenommenen nach mehr als zehn Jahren aufgrund der intensiven Bindung zur Schweiz oft nicht mehr zumutbar, das Land einfach so zu verlassen. Dies urteilte auch das Bundesgericht. Auch die Integration in den Arbeitsmarkt gestalte sich schwierig, wenn sie nach so langer Zeit noch nicht erfolgreich war. Es sei also fraglich, was mit der Kürzung überhaupt noch erreicht werde.

Weitreichende Folgen

Das Gericht gelangte mithin zum Schluss, dass die entsprechende Verordnungsbestimmung das Rechtsgleichheitsgebot verletzte. Statt den Entscheid aber nur aufzuheben und an die Vorinstanz, in diesem Fall das Regierungsstatthalteramt Seeland zurückzuweisen, hielt es das Gericht für angemessen, gleich selbst eine provisorische Regelung zu erlassen. Das Bundesrecht sehe einen tieferen Ansatz für vorläufig aufgenommene vor, jedoch seien 30% Differenz zu viel. Angemessen erschienen stattdessen 15%.

Die Abstimmung erging schliesslich knapp. Zwei von fünf Richter*innen sprachen sich gegen sich den Antrag der Referent*innen aus. Sie hatten im Wesentlichen argumentiert, dass ein deutlich tieferer Ansatz bundesrechtskonform und vom Gesetzgeber gewünscht sei.

Der Entscheid dürfte weitreichende Folgen haben, da zahlreiche ähnlich gelagerte Verfahren bei den Regierungsstatthalterämtern und beim Verwaltungsgericht in Hinblick auf die heute abgeurteilten Fälle sistiert worden waren. Diese können nun beurteilt werden. Auch die Sozialdienste dürften froh sein über die nun geschaffene Rechtssicherheit. Ausserdem wird der Regierungsrat neu verordnen und eine weniger harsche Kürzung festlegen müssen. Der Entscheid ist jedoch noch nicht rechtskräftig. Es ist nicht auszuschliessen, dass sich auch noch das Bundesgericht mit der regierungsrätlichen Verordnung wird auseinandersetzen müssen.