Regierungsrat kürzte Grundbedarf zu Unrecht

von Yannic Schmezer 21. Mai 2021

Im Juli 2020 setzte der Berner Regierungsrat in Eigenregie den Grundbedarf der Sozialhilfe für vorläufig aufgenommene Ausländer*innen um rund 30% herab. Dafür bestand keine gesetzliche Grundlage, urteilt nun der Regierungsstatthalter.

Im Kanton Bern bestreitet eine fünfköpfige Familie, die von der Sozialhilfe leben muss, ihren Lebensunterhalt mit 2364 CHF pro Monat. So steht es in der kantonalen Sozialhilfeverordnung. Für vorläufig aufgenommene Ausländer*innen, die seit mehr als sieben Jahren in der Schweiz leben, liegt dieser Ansatz noch tifere: Sie müssen sich mit 1684 CHF, also rund 30% weniger, durchschlagen. Im Juli 2020 nahm der Regierungsrat eine entsprechende Anpassung der Verordnung vor.

Regierungsrat war nicht befugt

Diese stellt sich nun jedoch als unzulässig heraus. Das urteilte der Regierungsstatthalter in einem jüngst ergangenen Entscheid. Der Regierungsrat sei gar nicht befugt gewesen, eine Herabsetzung des Grundbedarfs vorzunehmen. Der Regierungsstatthalter erblickte im kantonalen Recht keine Delegationsnorm, die es dem Regierungsrat erlaubt hätte, eine solche Ungleichbehandlung ins Recht zu setzen.

Gemäss dem kantonalen Recht ist der Regierungsrat zwar befugt, die Höhe der Sozialhilfe in einer Verordnung festzulegen. Jedoch ist er dabei an die gesetzliche Vorgabe gebunden, wonach alle Empfänger und Empfängerinnen unter Berücksichtigung der regionalen Unterschiede gleich zu behandeln sind. Dieses Gleichbehandlungsgebot sah der Regierungsstatthalter vorliegend verletzt.

Auch erblickte er keine bundesrechtliche Delegationsnorm. Untersucht wurde eine Bestimmung im Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG), wonach der Ansatz für die Unterstützung vorläufig aufgenommener Personen unter dem Ansatz für die einheimische Bevölkerung zu liegen habe. Zwar habe das Bundesgericht eine Ungleichbehandlung von Einheimischen und vorläufig aufgenommenen Personen gestützt auf diese Norm in der Vergangenheit zugelassen. Diese Ungleichbehandlung sei jedoch nur in Anbetracht der voraussichtlich kurzen und vorläufigen Aufnahme und des Fehlens eines Integrationsinteresses gerechtfertigt. Ein Bild, das sich heute nicht mehr aufrechterhalten lässt: Der Regierungsstatthalter führt bezugnehmend auf die neue Integrationsagenda 2019 aus, dass 80% der vorläufig aufgenommenen Personen längerfristig in der Schweiz blieben. De facto habe sich die vorläufige Aufnahme zu einem aufenthaltsrechtlichen Status entwickelt.

Ohnehin handle es sich bei einer Kürzung des Grundbedarfs um rund 30% um einen wichtigen Rechtssatz, der in einem formellen Gesetz zu verankern, also durch die Legislative und nicht durch den Regierungsrat zu erlassen sei. Hierfür sprächen eine Vielzahl von Gründen, argumentiert der Regierungsstatthalter und weist etwa auf die Abstimmung vom Mai 2019 hin, als eine Kürzung der Sozialhilfeleistungen nicht integrierter vorläufig aufgenommener Personen vom Berner Stimmvolk abgelehnt wurde. Der nun verordnungsweise vom Regierungsrat festgelegte Ansatz liege sogar noch unter dem damals abgelehnten Herabsetzungsbetrag.

Kein menschenwürdiges Leben möglich

Weiter stellte der Regierungsstatthalter fest, dass eine Verletzung des verfassungsmässig garantierten Rechtsgleichheitsgebotes vorliege. Die Kürzung um 30% widerspreche den Zielen der Erlasse, die ihr zu Grunde liegen. Die Sozialhilfegesetzgebung solle die Existenz sichern. Die Neustrukturierung des Asylbereichs im Kanton Bern habe die inklusive gesellschaftliche Integration als Hauptziel. Die Verordnungsänderung und die damit verbundene Differenzierung zwischen vorläufig aufgenommenen Personen und der einheimischen Bevölkerung sei deshalb weder konsequent noch systemgerecht und widerspreche den grundlegenden Werten unserer Rechts- und Staatsordnung sowie dem Gerechtigkeitsgedanken.

Zuletzt wurde denn auch festgestellt, dass die Beschwerdeführenden ihren Grundbedarf mit dem angepassten Betrag nicht decken könnten. Mit einem täglich zur Verfügung stehenden Betrag von 5 CHF pro Person für Nahrung und Getränke könne eine fünfköpfige Familie nicht auf Dauer ein menschenwürdiges Leben führen. Insbesondere sei für die drei Kinder der Beschwerdeführenden mit einem Mehrbedarf zur Sicherstellung ihres menschenwürdigen Existenzminimums zu rechnen.

Der Entscheid erging am 12. Mai, die Beschwerdefrist läuft 30 Tage seit Eingang desselben bei den Parteien. Bald schon könnte sich das Verwaltungsgericht mit der Zulässigkeit der regierungsrätlichen Verordnung befassen müssen.