Reduce to the Max

von Christoph Reichenau 25. Oktober 2023

Design Der Designer, Gestalter und Plakatkünstler Claude Kuhn wird 75 Jahre alt. Während Jahrzehnten hat er das Naturhistorische Museum in der Stadt sichtbar gemacht, hat für Boxen, Fechten und andere Sportarten Plakate gestaltet. Was wäre das Stadtbild ohne ihn gewesen? Was könnte die Stadt mit bewusster Gestaltungspolitik erst werden?

Auffallend zuerst die Leichtigkeit, die Eleganz, das Reduzierte und doch Sinnliche. «Reduce to the Max», hiess einst ein Werbeslogan für das Kleinstauto Smart. Er scheint auf Claude Kuhn gemünzt.
Reduced – das leuchtet bei Kuhns Plakaten unmittelbar ein. Dass dadurch eine Aussage gemacht wird, die nur durch Weglassen möglich wurde, muss jede Betrachterin und jeder Betrachter selbst herausfinden. Dazu ist es oft nötig, auf Umwegen zu denken, überhaupt zu denken. Denn Kuhns Plakate wirken erst so selbstverständlich, weil sie sich in einem langwierigen Prozess entpuppt haben.

Claude Kuhn 2019 (Foto:Thomas Rathgeb)

Ein Beispiel. Das Symbol der heuer gestarteten Aktion «Zeichen der Erinnerung» des Kantons Bern zum Gedenken an die Opfer von Zwangsmassnahmen bis 1981 ist ein Reissnagel. Das Nägelchen diente früher dazu, Papier auf Holzbrettern provisorisch zu befestigen, um darauf zeichnen zu können. Reissen ist ein Synonym von Zeichnen, ein Riss bedeutete einst einen Plan, beispielsweise für die Baumeister des Münsters. Das Wort Reissnagel vereint also Zeichnen und die kleine Spitze, an der man sich leicht sticht und verletzt. So wird die punaise (Kuhn verwendet oft französische Wörter) zu einem Ding, um das Blatt der Erinnerung festzuhalten und sich an deren Schärfe möglicherweise zu verletzen.

Plakat ZEDER 2023 (Bild: zvg)

Oder das Plakat für den Kulturpreis 2009 des Kantons Bern, der an die Geigenbauschule Brienz ging. Nebeneinander stehen zwei Birnen mit Stielen, die eine in Gold als Violine mit Geigenschlüsseln, umschwirrt und umschwärmt von Bienen in Notenform – die andere als aufgeschnittene Frucht mit Noten im Kerngehäuse. Alles ist drin: Die nährende Kraft der Musik, ihre Anziehung, ihre Schönheit.

Plakat kantonaler Kulturpreis 2009 (Bild: zvg)

Die Muse Larousse

In dem 2021 herausgegebenen Buch «Hommage an Larousse» bedankt sich Claude Kuhn bei seiner Muse, wie er sagt. Die verschiedenen Ausgaben des Larousse – Lexika, Enzyklopädien, Wörterbücher – erklären die Welt und sind eigene Welten. Man verliert sich in ihnen. Man findet stets etwas, doch nicht immer, was man sucht.

Wie das geht, beschreibt der Berner Schriftsteller Christoph Simon im Vorwort: «Beim Blättern beginnt Kuhn zu assoziieren, er verknüpft und verdreht, fügt hinzu und lässt weg, und viel Aufwand später – viele Mühen, Umwege, Sackgassen, Anfälle und Arbeitsschritte später – ist das Plakat, das Bild, das Buch, die Kunst geschafft. Voilà. ‹Eigentlich wird nicht viel Neues erfunden›, sagt Kuhn. ‹Vieles ist Assemblage, eine Frage der Optik. Die Sache unter einem anderen Gesichtspunkt betrachten. Die Neuordnung von bereits Bekanntem. Sobald du etwas hinterfragst, ist das schon der erste Schritt zur Kreativität›.»

Titelbild Buch «Hommage an Larousse» 2021 (Bild: zvg)

Noch ein Beispiel? Das Bild zeigt einen ausgestopften Straussenkopf in einer Vase. Kuhn (in Simons Worten): «Habe mich in diese Frau im Blumenladen verguckt. Als der Laden umzog, habe ich einen ausgestopften Straussenkopf in eine Vase gepflanzt und ihr diesen ‹Strauss› geschenkt, als Objet trouvé, als Vorschlag, als Logo für den neuen Blumenladen. Mittlerweile ist der Strauss in der Vase auf unserem Kühlschrank heimisch.»

Strauss-Vase (Bild: zvg).

Langes Training

Was bei Kuhn schliesslich elegant, ätherisch, lufttänzerisch erscheint, ist hart erarbeitet worden. Der Sprung des Tänzers, die Kür der Eiskunstläuferin – sie sind das Ergebnis langjährigen Trainings, von Schmerzen und wiederholten Neuanfängen. Für die Plakatkunst gilt das Gleiche. Claude Kuhn hatte das Glück, ab 1972 (da war er 24) bis 2013 (da war er 65) einen festen Arbeitgeber zu haben: das Naturhistorische Museum der Burgergemeinde Bern (NHM). Es unterfütterte sein freies künstlerisches Schaffen und das Dozieren an Hochschulen, gab ihm Rahmen und Richtung.

Das Museum als grosszügigen Arbeitgeber zu haben, der die Kunst zu schätzen weiss, gewährleistete Claude Kuhn während Jahrzehnten Präsenz im öffentlichen Raum der Stadt Bern: Kuhns Plakate trugen das NHM in die Stadt, prägten dessen Besonderheiten, verbanden Aspekte der Natur mit Kunst und Witz, mit Schalk und stets wacher Neugier. Kuhn und das BHM verschmolzen. Das war ähnlich mit den Sportplakaten vom Boxen und Fechten.

Plakat Boxing-Day 1991 (Bild: zvg)

 

Plakat Fechten 2022 (Bild: zvg)

Plakate bedürfen keiner Vermittlung

Ich bin überzeugt, dass Plakatgestaltung Kunst ist, die freilich meist misslingt. Es ist die öffentlichste der Künste, vergleichbar der Architektur, deren Werke uns alltäglich unabweisbar umgeben. So gesehen ist das NHM zu loben, das mit den Werken von Kuhn beitrug zur künstlerischen Gestaltung unserer Stadt und dafür Verantwortung übernahm.

Anderen Institutionen könnte diese Haltung Vorbild sein, etwa Bühnen Bern, etwa dem Kunstmuseum, etwa dem Historischen Museum. Wenn diese von den Steuerzahlenden subventionierten Häuser anstelle der heutigen, wenig sagenden, schlicht bessere Plakate gestalten liessen, dann würden sie die Stadt bereichern und erreichten auch jene, die selten oder nie über die Schwellen treten und doch jeweils mit 80 bis 90 Prozent zustimmen, dass auch ihr Obolus in die Förderung der Kultur fliesst. Das wäre eine Förderung zeitgenössischen Designs, die keiner zusätzlicher Geldtöpfe bedürfte, sondern «nur» der Überzeugung der Auftraggebenden. Und des Anstosses der Subventionsgeber.

Unsere Grösse ist unsere Stärke, Stephan Bundi (Bild: zvg)

«Plakate bedürfen keiner ‹Vermittlung› in Form von Kuratierung, da sie selbst die Botschaft übermitteln», schrieb 2001 Stephan Bundi, ein anderer Plakatkünstler in Bern auf Kuhns Niveau, weltweit vielfach ausgezeichnet. 2001 in Bern und 2011 in Freiburg hatten Kuhn und Bundi gemeinsame Ausstellungen, in allen Überblicksausstellungen zeitgenössischer Plakatkunst sind sie vertreten, weltweit in Museen gezeigt. Sie sind Kollegen und Konkurrenten. Es gibt zwei mir bekannte Werke von Stephan Bundi, die auch von Kuhn sein könnten: beide 2005 für die Münstergass-Buchhandlung entworfen.

Unsere Suchmaschine, von Stephan Bundi (Bild: zvg)

Kuhn, bilingue aufgewachsen, besuchte 16-jährig den Vorkurs und absolvierte die Ausbildung zum Dekorationsgestalter an der Schule für Gestaltung in Bern. In Stuttgart studierte er dann Szenografie und freie Grafik, in Zürich wissenschaftliches Zeichnen. Legendär waren seine Schaufenstergestaltungen. Ab 1972 begann neben freiem Schaffen die Arbeit am NHM.

Bundi ging einen anderen Weg. Das Plakat war seine erste Begegnung mit Kunst. Nach dem Vorkurs absolvierte er eine Lehre als Grafiker an einer von damals jährlich bloss vier bis sechs Lehrstellen in Bern. Nach einer Weiterbildung in Stuttgart schlug sich Bundi in die «freie Wildbahn». Bis heute ist er selbständig erwerbend. Er heimst noch immer internationale Auszeichnungen ein. Eine langwährende Präsenz mit seinen Plakaten im Stadtbild blieb ihm verwehrt.

Bundi findet, ihm und Kuhn gehe es letztlich um die Kreation, die gezielte Ideenfindung. Weder Computer noch künstliche Intelligenz könnten dabei wirklich helfen. Und weiter: «Wir beide sind der Überzeugung, dass Grafik (visuelle Kommunikation) informieren soll. Eine hohe Designqualität wird vorausgesetzt; sie dient der besseren Information. Ästhetik als Selbstzweck lehnen wir ab. Wir verwenden eine Bildsprache (visuelle Metaphern), die von der Zielgruppe verstanden werden kann, denn der Rezipient soll ernst genommen und nicht unterschätzt werden.»

Ein Traum

Nun wird Claude Kuhn 75 Jahre alt. Herzliche Gratulation! Eine Ära rundet sich, doch sie endet nicht. Sie könnte sogar stärker weitergehen. Was Ausnahmekünstler wie Claude Kuhn und Stephan Bundi gemeinsam und doch jeder auf seine Weise inhaltlich und bildnerisch im öffentlichen Raum der Stadt für Schauerlebnisse gestaltet haben, ist unschätzbar. Das NHM bleibt als Arbeit- und Auftraggeber ein inspirierendes Vorbild. Die Stadt könnte die Inspiration übernehmen und die Förderung der Plakatkunst zu ihrer Sache machen. Es wäre ein Traum. Wenn der runde Geburtstag über die Ehrung des Jubilars hinaus Anlass gibt, diesen Gedanken zum Leben zu erwecken, gibt er Kuhns Schaffen Wirkung über den Tag hinaus. Dann erwiese sich sogar das etwas an den Haaren herbeigezogene Patronatskomitee als hilfreich.

Zum Geburtstag von Claude Kuhn erscheint bei der Edition Till Schaap „Die grüne Mosaikjungfer“, ein dickes Buch mit sämtlichen Plakaten 1980-2013 sowie einem Vorwort von Gisela Feuz und einem Essay von Konrad Tobler. Das Vorwort ist ein imaginäres Gespräch. Toblers Essay ist eigentlich ein illustriertes Abecedarium mit 177 Stichwörter zum Werk des Jubilars. Vernissage ist am 27. Oktober um 18 Uhr unter den Lauben des Kornhauses. Dann wird auch die Ausstellung mit 90 Plakaten Kuhns auf 5 Stadtplätzen eröffnet, ebenso ein Kabinett im Kornhausforum.