Letzthin sass ich mit einer guten Freundin im Chinderchübu an einem Tisch in der Küche. Um uns wuselten die letzten Ausläufer*innen des Klimastreik-Sommerfestes herum, während sie mir von einer befreundeten Person erzählte, die gerade eine schwere Zeit durchmacht. Wir berieten, sinnierten, wertschätzten, verarbeiteten und tauschten aus; woben das leise Netz aus Sorgearbeit, das so viel abfängt und diese Gesellschaft am Laufen hält.
Schliesslich kamen wir darauf zu sprechen, wie wunderbar unser Umfeld ist. Dass unsere unglücklichen, einsamen Teenager-ichs in unserem Sehnen nach Freundschaft nicht einmal in der Lage gewesen wären, sich zu wünschen, was wir jetzt haben. Dass wir nicht einmal wussten, dass wir die Bedürfnisse haben, die dieser Freund*innenkreis jetzt stillt.
Da ist die Wertschätzung, die Zuneigung, die in Worte gefasst, aufgeschrieben und ausgesprochen wird: Anerkennung für unsichtbare Arbeit, wie sich um andere kümmern, an Geburtstage denken, Essen für Sitzungen organisieren. Liebevolle kleine Briefchen zwischendurch, eine bewusste, herzliche Umarmung, wenn es jemensch grad schwer hat (niemand umarmt so gut wie meine Freundin Johanna), ein «häb dr Sorg», ein «du bisch wundertoll», einfach so. Ich fühle mich gesehen, wertvoll, wie ich bin. Ich muss nichts leisten, ich fühle mich gehalten.
Ich muss nichts verheimlichen, nicht stark sein.
Da ist die Sorgfalt, mit der wir zueinander schauen: das Telefon nachts laut lassen, wenn es jemensch gerade schlecht geht, das Fragen nach Consent, ob jemensch eine Umarmung möchte, ein «was brauchst du grad?» wenn ich meiner Mitbewohnerin schreibe, aus einem dunklen Zelt in Schweden, weil ich gerade hilflos bin in meiner Angst.
Da ist diese absolute Sicherheit, dass niemensch jemals etwas Verletzliches, was mensch teilt, gegen eine*n verwenden würde. Mein Vater ist seit Jahren psychisch krank und der Umgang mit ihm oft sehr anstrengend. Alle um mich herum wissen das, und darüber bin ich unheimlich froh. Ich muss nichts verheimlichen, nicht stark sein. Ich weiss, dass ich neue Ereignisse erzählen kann, und alle wissen, worum es geht. Ich weiss, dass ich traurig sein darf, dass ich keine Ausreden erfinden muss, wenn ich abends mal keine Energie habe, um auf dem WG-Balkon zu sitzen und zu quatschen, sondern in meinem Zimmer liegen will. Ich weiss, dass sich meine Freund*innen auch gegenseitig unterstützen, wenn sie das, was ich erzähle, belastet, und das macht es mir wiederum leichter, anderen davon zu erzählen.
Das Ausserordentlichste an unserem Umgang miteinander ist, dass wir ihn uns selbst und ohne direkte Vorbilder beigebracht haben.
Es stört mich nicht, zu merken, dass andere über mich gesprochen haben, weil sie kein Geheimnis daraus machen. Weil ich ihnen endlos vertraue und weiss, dass sie fürsorglich und herzlich von mir reden, vielleicht auch mal kritisch, aber immer liebevoll. Weil ich selbst nur begeistert von meinen Freund*innen erzähle oder aber versuche, mich mit anderen auszutauschen, um herauszufinden, wie ich ihnen helfen kann, oder wie ich am besten ansprechen könnte, wenn mich doch mal etwas stört.
Das Ausserordentlichste an unserem Umgang miteinander, bemerkte meine Freundin an jenem regnerischen Sommerabend im Chinderchübu, ist, dass wir ihn uns selbst und ohne direkte Vorbilder beigebracht haben. Wir sind nicht damit aufgewachsen, im Gegenteil: Die Gesellschaft um uns herum ist geprägt vom Neoliberalismus und der spätkapitalistischen Kälte, die wenigsten von uns haben dieses Ideal der Wärme und Fürsorge von Zuhause mitbekommen. Und doch haben wir dazu gefunden, inspiriert von politischen Ideen, Überzeugungen, Utopien von marginalisierten Communities aus weit entfernten Teilen der Welt, teilweise aus längst vergangener Zeit.
Journal B unterstützen
Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.
Wir leben unsere Utopie. Und versteht mich nicht falsch, sie ist bei Weitem nicht perfekt! Missverständnisse, Streit, genervt sein, das gehört zum Menschsein dazu. Aber bei allen menschlichen Hin und Hers bleibt der Grundbaustein dieser Freundschaften immer liebevoll, fürsorglich, oder, um es mit den Worten der grossartigen deutschen Autorin Şeyda Kurt auszudrücken, «radikal zärtlich».
Und wenn ich manchmal versinke in meiner Hilflosigkeit, meinem Unvermögen, am Weltgeschehen etwas zu verändern, dann bin ich doch ein klein wenig stolz darauf, was meine Friends und ich uns allem zum Trotz erarbeitet haben. In diesem Höllenloch von einer Welt ist Zärtlichkeit revolutionär. Wir tragen sie hinaus in die Welt. Und nicht zuletzt ist sie das, was uns den Rücken stärkt, uns auffängt und erlaubt, einmal mehr aufzustehen für eine bessere Welt.