Radikal menschlich und humorvoll inhaltsleer

von Noah Pilloud 25. Mai 2023

Theaterfestival Wie immer bot das Programm von «auawirleben» eine ganze Bandbreite an Aufführungen. Doch manchmal liegt gerade jenen Darbietungen, die auf den ersten Blick gegensätzlich wirken, eine Gemeinsamkeit zugrunde.

An der Oberfläche verbindet wenig die beiden Aufführungen «Traces – Discours aux Nations Africaines» und «Elles vivent» am Berner Theaterfestival «auawirleben». Neben der Tatsache, dass beide Stücke auf Französisch waren und der Autor dieser Zeilen zufälligerweise diese beiden Aufführungen aus dem vielfältigen Festivalprogramm ausgewählt hat, scheint es mehr Gegensätze denn Gemeinsamkeiten zu geben.

Während «Traces» mit einer spartanisch eingerichteten Bühne daherkommt, setzt «Elles vivent» auf Technik und erforscht neue Formen des Erzählens im Theater. Besteht das eine aus einem langen Monolog, schlüpft beim anderen ein 3-Personen-Ensemble in verschiedene Rollen. Dem Monolog geht es um ein ernstes Anliegen, das auch mal mit Witz rübergebracht wird. Die Komödie transportiert ihre Botschaft mit einer grossen Packung Ironie.

Die Botschaften, die das Publikum in den beiden Darbietungen finden kann, unterscheiden sich zwar inhaltlich. Und doch liegt ihnen etwas inne, das die beiden so verschiedenen Stücke verbindet.

Zwischen Prediger und Geschichtenerzähler

Das Stück «Traces – Discours aux Nations Africaines» ist als Monolog eines Rückkehrers konzipiert. Ein Rückkehrer, der sein Heimatland und schliesslich seinen Heimatkontinent verliess, um in Europa zu finden, was ihm zu einem erfüllten, selbstbestimmten Leben fehlte, bald aber realisierte, dass «in den Hinterhöfen der Anderen keine Würde zu finden ist».

Doch was bedeutet das für die Darbietung vor einem mehrheitlich weissen Berner Publikum? Die Zuschauer*innen müssen sich in das abwesende Zielpublikum hineinversetzen. Das erzeugt Empathie.

Étienne Minoungou holt in seinem Monolog weit aus, erzählt die Geschichte des Kontinents Afrika von der Dämmerung der Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart. Dabei rechnet er nicht nur mit dem Kolonialismus des 18. und 19. Jahrhunderts ab, auch die Entwicklungshilfe und das Engagement der NGOs sieht er in dieser Tradition der Arroganz des globalen Nordens. Der Arroganz zu denken, alles vermessen und einordnen zu können und so die eigene Vorstellung von Fortschritt in die Welt hinauszutragen.

Minoungou schwankt zwischen dem Duktus eines Predigers und jenem eines Geschichtenerzählers. Häufig bezieht er sich auf Folklore und Mythologie – etwa auf die Serer-Legende der ersten Menschen Unan und Ngoor – untermalt wird das Ganze von traditioneller Musik. Man könnte es schon fast für Ethnokitsch halten. Man muss sich jedoch vergegenwärtigen, wer die Adressat*innen dieses Monologs sind.

Die Rede des Rückkehrers richtet sich nämlich an jene, die in der Heimat verblieben und an jene, deren Vorfahren sie einst verliessen. Doch was bedeutet das für die Darbietung vor einem mehrheitlich weissen Berner Publikum? Die Zuschauer*innen müssen sich in das abwesende Zielpublikum hineinversetzen. Das erzeugt Empathie.

Vielleicht ist genau das der Sinn der Übung. Jedenfalls geschieht so etwas Wunderbares: Während Schauspieler und Musiker auf der Bühne relativ authentisch sich selbst verkörpern, vollzieht das Publikum eine Verwandlung, es versetzt sich selbst in eine Rolle und erfährt so die transformative Kraft des Theaters.

Grotesk im besten Sinn

Die Handlung von «Elles Vivent» spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft. Im Wald zeigen sich zwei Freunde mit einer Erfindung, die sie Mnemoprojektor nennen, ihre Erinnerungen. Mithilfe einer grossen Leinwand und einiger weiterer technischen Tricks erschafft das Stück von Antoine Defoort so mehrere Erzählebenen, zwischen denen es sich spielerisch hin und her bewegt.

Zwei Männer stehen auf einer Bühne, die aussieht wie eine Waldlichtung.
Grotesk im besten Sinn: «Elles Vivent» von Antoine Defoort (Foto: Matthieu Edet).

Entlang der Erinnerungen des Protagonisten Michel wird so die Geschichte der politischen Gruppierung «Plattform Modalität und Kontext» erzählt. Die politische Ausrichtung dieser Gruppierung, die sich partout nicht Partei nennen will (obwohl es sich technisch gesehen um eine solche handelt), ist genauso inhaltsleer wie ihr Name. Was genau die Plattform will, ist ihren Gründer*innen selbst nicht klar, ausser dass sie die Art und Weise, wie politische Debatten geführt werden, verändern wollen.

So beginnen sie zu experimentieren und begeben sich auf eine wilde Reise, auf der sie den Geist des Waldes kennenlernen. Ausserdem stellen sie fest, dass Ideen leben und durch eine Sonnenbrille betrachtet als Gestalten erkennbar sind. Das ist grotesk im besten Sinn des Wortes. Es ist vor allem aber furchtbar witzig erzählt.

Elles Vivent bringt alle Zutaten mit sich, um ein metamodernes Glanzstück zu sein. Und doch fehlt das letzte Stück Radikalität, damit der Funke springt.

«Elles Vivent» ist ironisch, intertextuell und meta. Es dekonstruiert die Gesprächsstrategien in politischen Fernsehdebatten genauso wie das nichtssagende Herumeiern während Sitzungen und Präsentationen (was gerade auf Französisch hervorragend funktioniert). Das alles schafft das Stück, ohne zynisch zu werden. Stattdessen behält es Aufrichtigkeit und eine gesunde Naivität bei.

Metamodern doch nicht radikal genug

Die Aufrichtigkeit ist spürbar, wenn die Schauspieler*innen versuchen zu vermitteln, worum es ihnen im Stück geht. Ihre Botschaft ist ein Aufruf, offen mit den eigenen Ängsten umzugehen und an die Kraft der Ideen und Geschichten zu glauben. Das Paradoxe nicht zu vermeiden, sondern gezielt zu suchen. Eine zutiefst menschliche und hoffnungsvolle Botschaft.

Doch weil sich das Stück nicht mit konkreten politischen Inhalten beschäftigt und es gegen Ende auch verpasst, die eigenen Held*innen in ihrer Inhaltslosigkeit vorzuführen, bleibt die Botschaft zu zahnlos. Es bleibt das Zeugnis einer orientierungslosen Klasse, die zwar irgendwie politisiert ist, aber dann doch zu privilegiert, als dass sie sich tatsächlich mit Politik und Inhalten auseinandersetzen müsste.

Das ist schade, denn «Elles Vivent» bringt alle Zutaten mit sich, um ein metamodernes Glanzstück zu sein. Es dekonstruiert Althergebrachtes, erschüttert mit Ironie vermeintliche Gewissheiten und stellt intertextuelle Bezüge sowohl zu Popkultur wie auch zur sogenannten «Hochkultur» her. Es ist aufrichtig und hoffnungsvoll statt zynisch. Und doch fehlt das letzte Stück Radikalität, damit der Funke springt.

Er ruft die Bevölkerung Afrikas dazu auf, ihren eigenen Weg zu gehen, statt dem globalen Norden nachzueifern.

Bei «Traces» hingegen findet sich diese Radikalität. Sie äussert sich das in einem Appell an die Würde und den Widerstand, an die Autonomie und die Freiheit. «Il faut tourner le visage au soleil», ruft Minoungou seinem Publikum zu. Er ruft die Bevölkerung Afrikas dazu auf, ihren eigenen Weg zu gehen, statt dem globalen Norden nachzueifern. Auch das eine Botschaft voll Menschlichkeit und Hoffnung. Doch obwohl sie sanft vorgetragen wird, ist sie im Kern äusserst radikal.

Beide Darbietungen verbindet also eine zutiefst menschliche Grundhaltung die sie mit einer Spur Pathos und Hoffnung zu vermitteln versuchen. Beiden geht es um ein politisches Anliegen. Doch es sind die konkreten Inhalte, die der menschlichen Grundhaltung ihre Form und dem Pathos eine Richtung geben.