Pralinen und Heulkrämpfe

von Mo 4. Januar 2024

Übergriffe Es sind die Betroffenen von Übergriffen, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Unsere Kolumnistin möchte stattdessen eine Kultur der gesunden Wut, des Mitgefühls und des Zuhörens. Eine Kultur, in der alle für ihr eigenes Handeln verantwortlich sind.

Triggerwarnung: Übergriffe und sexuelle Gewalt

Wissen Sie, was mich richtig hässig macht? Mich macht der Typ richtig hässig, der vor mir aus der Caféteria spaziert, als könnte er kein Wässerchen trüben. Der Typ, der blöderweise an genau der gleichen Uni studiert wie ich seit Kurzem. Der Typ, der in Ruhe in den Tag hinein leben kann, während ich jeden Tag überlege, ob ich ihn wohl heute treffe, ob ich jetzt wirklich allein aufs Klo gehen will, was ich tun würde, wenn er mich anspricht. Der Typ, der immer und immer wieder Grenzen überschreitet, seit diesem heissen Sommer vor sechs Jahren.

Ich war 16, er etwas älter. Wir waren in der gleichen Klasse. Es war mein erster Kuss und ich überfordert. Er setzte mich unter Druck, ihn sofort wieder zu treffen, er beschimpfte mich, als ich nicht wollte. Ich weinte, ich hatte Angst, ich gab mir selbst die Schuld. Schämte mich und erzählte kaum wem davon. Er schrieb mir wieder und wieder Nachrichten, suchte meine Adresse raus, um mir einen Brief zu schreiben.

Ich sagte ihm klipp und klar, er solle mich in Ruhe lassen. Er legte mir zum Valentinstag Pralinen in den Spind, als er längst nicht mehr in die gleiche Schule ging. Ich hatte Angst, er würde mir auflauern, zu Hause, auf dem Schulweg. Jahre später schickte er mir Freundschaftsanfragen auf verschiedenen sozialen Medien. Ich löschte alle unbeantwortet, jedes Mal flammte die Angst von Neuem auf.

An meinem zweiten Tag an der neuen Uni stand er mir plötzlich im Gang gegenüber. Ich ignorierte ihn, klopfendes Herz, gleiche Angst. Das nächste Mal kam er in die Bibliothek, als ich dort mit Freund*innen lernte. Ich suchte eine Ausrede und rannte davon. Ich begann, jeden Raum zuerst nach ihm abzusuchen. Schreckte zusammen, wenn ich im Gang Menschen sah, die ihm auch nur entfernt ähnlich sahen. Wenn ich alleine durch die Korridore ging, fragte ich mich, was ich tun sollte, falls er plötzlich aus einer Tür käme. Während er ganz normal seinem Alltag nachgehen konnte, trug ich all die Schwere und die Angst mit mir herum.

Das ist ein sehr typisches Muster. Wenn es keine Anlaufstellen für Übergriffe gibt und Betroffene mit ihren Erlebnissen alleine bleiben, werden sie oft faktisch von jeder Umgebung, in der die übergriffige Person sich bewegt, ausgeschlossen.

In Debatten über Übergriffigkeit und sexualisierte Gewalt wird sehr oft von der Unschuldsvermutung gesprochen. Beschuldigte vorschnell zu verurteilen sei gefährlich, Frauen (denn natürlich sind nur (cis) Frauen von Übergriffen betroffen) würden sowas zu ihrem Vorteil ausnutzen und arme unschuldige Männer (denn natürlich können nur Männer übergriffig sein) würden deshalb aus ihrem Umfeld gerissen.

Ganz unabhängig davon, dass unzählige Studien beweisen, wie selten falsche Anschuldigungen in diesem Zusammenhang sind: Betroffenen nicht zu glauben, bedeutet umgekehrt eben auch, sie faktisch  auszuschliessen, und ihnen obendrein noch die ganze Mental Load zu verpassen.

Und interessanterweise scheint die Unschuldsvermutung für Personen, die jemenschen beschuldigen, übergriffig gewesen zu sein, nicht zu gelten: Sie stehen unter Generalverdacht zu lügen.

Ich glaube, sehr oft ist unser Ansatz falsch. Es geht nicht um Schuld und Bestrafung. Es geht nicht darum, herauszufinden, ob ein bestimmter Vorfall irgendeiner arbiträren Definition von (sexualisiertem) Übergriff entspricht: Vaginale Penetration, bei der ein Nein übergangen wurde? Vergewaltigung. Anal? Sexuelle Nötigung. Penetration, für die es keine verbale Zustimmung gab? Nicht strafbar. Das Opfer hatte öfter Sex mit Männern? Tja, vielleicht wollte es die Geschichte ja doch. 11 Minuten? Das geht ja noch.

Es geht einzig und allein darum, ob jemensch die Grenzen einer anderen Person überschritten hat. Ganz einfach. Jemensch berührt mit Absicht Ihre Brüste, ohne dass Sie das möchten? Das ist ein Übergriff. Jemensch greift Ihnen (insbesondere als Schwarze Person) in die Haare ohne zu Fragen? Das ist ein Übergriff, eine Überschreitung einer Grenze, wenn auch nicht unbedingt sexualisierte Gewalt. Jemensch beschimpft Sie, lässt Sie nicht in Ruhe, schreibt Ihnen Briefe, Nachrichten, «beschenkt» Sie wieder und wieder ungefragt? Das ist ein Übergriff.

Ich möchte die Zukunft dieses mühsamen jungen Mannes nicht zerstören, seinen Ruf nicht schädigen, ihn nicht seinen Job verlieren lassen. Ich möchte nur zwei Dinge. Erstens, dass er versteht, was er mir angetan hat und er sich damit auseinandersetzen muss. Zweitens, dass er mir aus dem Weg geht, statt dass die Last und die Verantwortung, Begegnungen zu vermeiden, bei mir liegen.

Denn darum geht es doch. Darum, dass wir alle Verantwortung für unser eigenes Handeln übernehmen. Dass wir die Konsequenzen tragen, ohne dass diese durch willkürlich festgelegte Strafen künstlich verstärkt werden. Um Reflexion, darum, aus Fehlern zu lernen und die Welt zu einer besseren zu machen, indem wir unser übergriffiges Verhalten nicht wiederholen.

Ich will keine Cancel Culture. Ich will eine Kultur, in der wir Vorwürfe ernst nehmen, versuchen, bessere Menschen zu werden, in der wir Raum schaffen für die Stimmen Betroffener, für menschliches Wachsen und ehrliche Entschuldigungen. Eine Kultur der gesunden Wut, des Mitgefühls und des Zuhörens. Eine Kultur der, exgüse für mein Denglisch, Accountability.

Und vielleicht auch ein bisschen für eine Kultur des Arschlöcher-einfach-mal-auf-dem-Flur-Anschreiens.  Ich arbeite dran.