Pragmatto regiert

von Christoph Reichenau 21. Dezember 2021

Das Kunstmuseum Bern gibt aus der geerbten Sammlung Gurlitt zwei Kunstwerke zurück, ohne dass die Berechtigung der Anspruchsteller bis ins Letzte nachgewiesen wäre. Das überrascht und überzeugt als wohltuender Pragmatismus. Wegleitend soll der Beschluss jedoch nicht sein, da der konkrete Fall sehr besonders liege. Dennoch hat er Auswirkungen auf den Umgang mit NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kunstgütern.

Plötzlich ging es schnell: Ohne Vorwarnung versandte das Kunstmuseum Bern (KMB) an einem Freitag um 10:45 Uhr eine achtseitige Medienmitteilung mit umfangreichen Beilagen. Das Thema ist wichtig, der Umgang mit den Medien ungewöhnlich. In der Schweiz wird seit Wochen eine Auseinandersetzung geführt über die Stiftung Bührle, die als Leihgabe neu im Chipperfield-Zusatzbau des Kunsthauses Zürich einquartiert ist. Der Vorwurf: Ungenügende Abklärung der Provenienz bedeutender Kunstwerke und Verharmlosung der Erwerbsumstände. In der aufgeheizten Stimmung, die nicht nur Zürich beschäftigt, meldet sich das KMB zu Wort. Es gibt zwei Aquarelle von Otto Dix, deren Herkunft nicht vollständig geklärt ist, den Nachkommen von Ismar Littmann und von Paul Schaefer zurück. Ein von Gerechtigkeitssinn und Pragmatismus geleiteter Entscheid. Seine Botschaft: Den Ball flach halten.

Die «Provenienz-Ampel»

Erinnern wir uns. Im November 2014 hat das KMB die Erbschaft von Cornelius Gurlitt angenommen. Sie bestand aus rund 1‘600 Kunstwerken. Das Testament überraschte. Vor der Annahme prüfte das KMB summarisch den Bestand auf etwaig durch die Nationalsozialisten im Zeitraum 1933-1945 geraubte Werke (NS-Raubkunst). Zudem schloss es mit der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und dem Freistaat Bayern eine Vereinbarung. Kern der Vereinbarung ist eine sogenannte «Provenienzampel». Sie unterteilt die Sammlung in 3 Gruppen.

Mit der Farbe Rot als NS-Raubkunst gekennzeichnete Werke (es sind 9) übernahm das KMB nicht. Sie gingen in treuhänderischen Besitz der BRD. Mittlerweile sind sie den Anspruchsberechtigten zurückerstattet worden.

Als «grün» gelten Werke, für die ein Verdacht auf Raubkunst mit an Sicherheit geltender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann (es sind 28). Sie wurden Eigentum des KMB.

Die Erkundung der Werke der Farbe gelb

Die grosse Mehrheit der Sammlung ist «gelb». Die 1‘366 «gelben» Werke wurden später nochmals unterteilt in «Gelb-Grün» (246) und «Gelb-Rot» (29). Zur Kategorie «Gelb-Grün» gehören Bilder, die von Mitgliedern der Familie Gurlitt geschaffen wurden (246) sowie Werke, deren Provenienz nicht lückenlos geklärt werden konnte. Es bestehen jedoch keine Belege für NS-Raubkunst und es sind keine auffälligen Begleitumstände bei Handwechseln bekannt (1‘091).

Auch bei den 29 «gelb-roten» Werken ist die Provenienz nicht abschliessend geklärt und bestehen keine Belege für NS-Raubkunst. Allerdings liegen Hinweise auf Raubkunst vor oder es gibt auffällige Begleitumstände bei Handwechseln.

Es ging nun darum, die Herkunft der Werke «Gelb-Grün» und «Gelb-Rot» sorgfältig zu ermitteln. Die Forschung begann in Deutschland in verschiedenen Gruppen und Projekten. 2017 richtete das KMB eine Abteilung für Provenienzforschung ein, geleitet von Nikola Doll.

Welche Regeln gelten?

Für den Umgang mit Kunstwerken, die in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und in besetzten europäischen Ländern sowie aufgrund der Nürnberger Rassengesetze 1933-1945 Museen, Künstlerinnen und Künstlern sowie Sammlerinnen und Sammlern entzogen worden sind, gelten die Washingtoner Prinzipien 1998, die Theresienstädter Erklärung 2009 sowie – allgemein – der Code of Ethics für Museen des Internationalen Museumsrats ICOM. Überdies, besagt die Medienmitteilung des KMB, «spielt ein verantwortungsvoller Umgang mit unsicheren Erkenntnislagen eine zentrale Rolle; die Stiftung KMB hat, gestützt auf umfassende historische Forschungsarbeiten sowie rechtliche und ethisch-moralische Überlegungen» entschieden.

Die Herkunft des Aquarells «Dame in der Loge» von Otto Dix konnte nicht lückenlos aufgeklärt werden. (Bild: Kunstmuseum Bern)

Um zu ihrem Entscheid zu gelangen, hat die Stiftung KMB zwei für die Schweiz bemerkenswerte Schritte gemacht: Sie nimmt Abstand vom (historisch geprägten) Begriff des «Fluchtguts». Und sie distanziert sich von der Haltung, wonach es hieb- und stichfester – letztlich vor Gericht beweisbarer – Erkenntnisse bedürfe, um eine Restitution in Erwägung zu ziehen. Ja, das KMB ging im konkreten Fall noch einen Schritt weiter, indem es aktiv auf Personen zuging, die nach den Recherchen Anspruch auf Bilder haben könnten, den sie selbst gar nicht geltend gemacht hatten. Das ist wahrlich ein Paradigmenwechsel, wie es der Historiker und Journalist Thomas Buomberger ausdrückt.

Zum Begriff «Fluchtgut»

Die Washingtoner Prinzipien, 1998 unter Beteiligung der Schweiz aufgestellt, fordern faire und gerechte Lösungen für «NS-Raubkunst». Gemeint sind sämtliche Kunst- und Kulturwerke, die während der nationalsozialistischen Herrschaft zwischen 1933 und 1945 politisch und rassistisch verfolgten Personen und Institutionen entwendet worden sind – und zwar in Deutschland sowie in den von Deutschen besetzten und annektierten Gebieten. Dies auch wenn es dafür (Unrechts-) Gesetze gab wie zum Beispiel die «Judenvermögensabgabe» oder die «Reichsfluchtsteuer».

Als «Fluchtgut» oder «Fluchtkunst» bezeichnet werden Kunstwerke, die in Not veräussert wurden, um die Flucht ihrer Eigentümerinnen und Eigentümer vor Verfolgung und Tod zu ermöglichen. Der Verkauf konnte der Finanzierung der Flucht dienen oder auf der Flucht stattfinden, zum Beispiel in der Schweiz. Zentral ist die asymmetrische Lage zwischen dem dringend auf Geld angewiesenen Verkäufer und dem nicht in Not befindlichen Käufer. Diese Situation – in der grundsätzlich kein Vertrag zustande kommen darf – konnte dazu ausgenützt werden, die Preise zu drücken. «Fluchtgut» ist kein Rechtsbegriff wie «NS-Raubkunst». Es ist eine historisch-analytische Kategorie. Die Bergier-Kommission prägte sie in der Überlegung: Da es in der Schweiz zu jener Zeit kein NS-Regime gab, gab es auch kein Fluchtgut. Daraus entwickelte sich vor allem in Museums- und Sammler*innenkreisen das Narrativ, Washington beziehe sich auf Raubkunst, Fluchtgut ist nicht Raubkunst und untersteht folglich nicht den Prinzipien.

Seit 2009 gilt zusätzlich die Theresienstädter Erklärung über Holocaust-Vermögenswerte und damit verbundene Fragen. Die Erklärung, an der auch die Schweiz mitgewirkt hat, bezieht sich unter anderem auf «NS-verfolgungsbedingt entzogene Kunstgegenstände», unabhängig davon, wo und unter welchen konkreten Umständen es zum Entzug gekommen ist, ob durch staatliche Eingriffe oder durch das Verhalten Privater.  Sie betont die Wichtigkeit der Provenienzforschung. Und sie fordert gerechte und faire Lösungen «auf Grundlage der tatsächlichen und materiellrechtlichen Gesichtspunkte». Schliesslich mahnt die Erklärung: «Bei der Anwendung von Rechtsvorschriften, die einer Restitution von Kunstgegenständen und Kulturgütern entgegenstehen könnten, sollten die Staaten alle wesentlichen Aspekte berücksichtigen, um gerechte und faire Lösungen zu erzielen, und auch alternative Wege der Streitbeilegung erwägen, soweit sie rechtlich vorgesehen sind».

Die Schweiz anerkennt durch die Erklärung, dass NS-verfolgungsbedingt entzogene Kunstgegenstände unter die Washingtoner Prinzipien fallen. Die historische Kategorie der «Fluchtkunst» fällt dahin. Seit 2009 gilt – so versteht es der Kunstrechtsspezialist Andrea Raschèr – umfassend der Begriff der «NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kunstgegenstände».

Interessant ist, dass sich das KMB ausdrücklich auf die Theresienstädter Erklärung bezieht. Demgegenüber fehlt auf der Website des Bundesamts für Kultur im «Glossar NS-Raubkunst» (Stand Juli 2019) jeglicher Hinweis auf die Erklärung. Es heisst: «Der Begriff ‚verfolgungsbedingter Entzug‘ ist kein Bestandteil internationaler Vorgaben». Zu den Ausdrücken «Fluchtgut» und «Fluchtkunst» schreibt das Bundesamt, nur wenn «ein Transfer oder Handwechsel zwischen 1933-1945 in seiner Wirkung konfiskatorisch war», könne es sich «um NS-Raubkunst im Sinne der Washingtoner Richtlinien handeln». Zehn Jahre nach der Theresienstädter Erklärung ist diese in Bundesbern noch nicht angekommen. Warum hat das BAK überhaupt teilgenommen?

Was hat das KMB entschieden?

Der Stiftungsrat übergibt die Aquarelle «Dompteuse» und «Dame in der Loge» von Otto Dix den Erben von Ismar Littmann sowie den Erben von Paul Schaefer. Die Erben beider Seiten müssen sich zuvor über den Umgang mit dem Eigentum einigen; den Einigungsprozess moderiert das KMB.

Gibt das KMB den Anspruchstellenden zurück: «Dompteuse» von Otto Dix, entstanden um 1922. (Bild: Kunstmuseum Bern)

Zudem wird das KMB im Sinne dieser Entscheidung und im Geist der Washingtoner Prinzipien seine gesamte Sammlung auf die Provenienz der Werke hin untersuchen und bei Bedarf faire, gerechte und einvernehmliche Lösungen anstreben. Als Beispiel genannt wird die 2018 erfolgte Regelung für Paul Cézannes Gemälde «La Montagne Sainte-Victoire», bei der die Familie Cézanne das Eigentum des KMB anerkennt und im Gegenzug das Recht erhält, das Bild regelmässig als Leihgabe im Musée Granet von Aix-en-Provence zu zeigen. Achtung: Für die dem KMB assoziierten Stiftungen, etwa die Rupf-Stiftung, gilt dieser Beschluss nicht.

Besonders am Vorgehen des KMB ist dreierlei:

  • Das KMB übergibt die Bilder, obwohl trotz sorgfältiger Recherchen deren Provenienz nicht lückenlos geklärt werden konnte, weil «die relevanten Wege der Forschung (…) ausgeschöpft» seien und «der verfolgungsbedingte Entzug das relativ wahrscheinlichste Szenario» sei. Zudem sei die Zusammenarbeit mit den Nachkommen konstruktiv, transparent und von gegenseitigem Verständnis und Vertrauen geprägt gewesen. – Das heisst: Dem Prozess des Erkennens wird ähnliche Bedeutung zuerkannt wie der erlangten Erkenntnis. Der Prozess muss einmal abgeschlossen werden, man kann nicht ewig weiterforschen und die Ansprüche stellenden Personen hinhalten. Einmal muss man auch im Nebel des Nicht-alles-Wissens pragmatisch entscheiden.
  • Das KMB übergibt die Bilder den potentiell Berechtigten und nicht – was angesichts der Beweislage ebenfalls möglich gewesen wäre – der Bundesrepublik Deutschland in treuhänderischen Besitz. – Das heisst: Es nimmt seine Verantwortung wahr und überlässt sie nicht der BRD.
  • Ohne es ausdrücklich zu sagen, hält sich das KMB an den Begriff des NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kunstguts gemäss der Theresienstädter Erklärung. – Das heisst: Es setzt sich in Gegensatz zum Bundesamt für Kultur, zur Bergier-Kommission und auch zur Stiftung Bührle, deren Präsident den Begriff in der Schweiz für nicht anwendbar hält, weil es in den Jahren 1933-1945 in der Schweiz Juden möglich gewesen sei, normal zu geschäften.

Warum gerade jetzt?

Aufgrund der  Vereinbarung von 2014 besteht die Abmachung, dass sich das KMB bis Ende 2021 für den Grossteil der Werke der Kategorie «gelb-rot» entscheide, ob es sie behält und ihre Provenienz abklärt oder der BRD in treuhänderischen Besitz zurückgibt. Dies ist der Grund für den Zeitpunkt der Entscheidung. Dass diese wie ein Paukenschlag in die Diskussion über die Stiftung Bührle und deren Präsentation im Kunsthaus Zürich fällt, ist Zufall. Bis Ende 2022 hat das KMB noch Gelegenheit, Sonderfälle zu behandeln; bei 22 gelb-roten Werken haben sich neue Forschungswege aufgetan, wie Marcel Brülhart berichtet.

Und nun?

Vor ein paar Tagen hat der Bündner SP-Nationalrat Jon Pult mit einer Motion die Einsetzung einer unabhängigen Kommission für NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter gefordert. 33 Mitglieder des Nationalrats unterzeichneten den Vorstoss, der zwei Hauptpunkte enthält:

  • Die vom Bundesrat einzusetzende Kommission soll vollkommen unabhängig sein, auch auf Anrufung nur einer Partei im Einzelfall tätig werden dürfen und Empfehlungen aussprechen.
  • Die Kommission unterscheidet nicht zwischen «NS-Raubkunst» und «Fluchtgut» sondern einzig nach dem Begriff des «NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts». Schon mit ihrer Einsetzung würde folglich die Begriffsdiskussion entschieden. Und der Bund würde endlich jene Verantwortung wahrnehmen, für die er sich bereits 2009 in Theresienstadt verpflichtet hatte.

Am Bundesrat ist es nun, Farbe zu bekennen.

 

Eine Einschätzung

Kommentar des Autors Christoph Reichenau

2014 habe ich die Annahme der Erbschaft Gurlitt durch das KMB begrüsst, war allerdings skeptisch, ob die Stiftung ihrer ethisch-historischen Verantwortung vollständig gerecht würde. Heute hat das Museum meine Skepsis ausgeräumt. Sein bisheriges Handeln ist geprägt vom Bestreben nach aufwendiger Provenienzforschung und vom Suchen einvernehmlicher, gerechter und fairer Lösungen im Einzelfall. Respekt verdienen auch die bisherigen beiden Ausstellungen zur Sammlung Gurlitt und zum Umgang mit dieser.

Es bleiben Fragen, eine fallbezogene und eine allgemeine:

  • Weshalb betont das KMB so penetrant, mit der nun getroffenen Lösung solle kein Präjudiz für die direkte Anwendung der Washingtoner Prinzipien verbunden sein? Warum sieht es vorliegend «einen ganz besonders gelagerten Einzelfall, der sich nicht auf andere Fälle übertragen lässt»? Weshalb schliesst es einen Paradigmenwechsel aus, wenn doch die Theresienstädter Erklärung, deren Wortlaut und Geist das KMB folgt, gerade auf faire und gerechte Lösungen «im Einzelfall» abzielt? Will man keinen Konflikt mit dem Bundesamt für Kultur? Scheut man eine Vorreiterrolle in diesem Bereich? Das wäre schade, denn bisher hat sich das KMB im schwierigen Feld pragmatisch und standhaft gezeigt.
  • Fallbezogen darf man fragen, wie der Entscheid ausgefallen wäre, wenn es bei den zwei restituierten Werken um Gemälde wie damals die «Montagne Saint-Victore» gegangen wäre. 2018 hat sich das KMB sein Eigentum anerkennen lassen und damit das volle Verfügungsrecht bewahrt. Die Rückgabe von zwei Dix-Aquarellen ist – bei allem Respekt – mit Blick auf ihre künstlerische und finanzielle Bedeutung viel leichter gefallen.

Doch es geht (mir) heute nicht um Spekulation, sondern um die Anerkennung eines verantwortungsbewussten Handelns auf innovativen und «alternativen Wegen der Streitbeilegung» (Theresienstädter Erklärung). Pragmatismus ist gefordert. Empathisch grundierter Pragmatismus hat das KMB geleitet. Dies macht es zum Vorbild. Und zu einem guten Ort für Leihgaben und Schenkungen.