Philosophischer Wurf aus dem Tessin

von Rita Jost 21. August 2023

B-Kanntschaft «Kill Venus!» tönt nach Krimi, ist aber Philosophie. Eine Bernerin hat das Buch der Tessinerin Lina Bertola über die Abwertung des Weiblichen übersetzt.

Lina Bertola ist im Tessin eine bekannte Philosophin. Sie hat jahrelang am Gymnasium von Lugano und an der Fachhochschule für Berufsbildung unterrichtet und ist in den Medien eine gefragte Interviewpartnerin, wenn es um ethische Fragen geht. Ihr 2021 erschienenes Buch «Kill Venus!» fordert ein Ende der jahrtausendealten Herabsetzung des Weiblichen im westlichen Denken und tritt ein für eine neue umfassende Menschlichkeit im Handeln und Fühlen von Männern und Frauen. Die Autorin spricht von einem «verratenen Wert der Weiblichkeit», der die Philosophie, die Geschichte, die Medizin und nicht zuletzt das Zusammenleben von Mann und Frau bis heute präge und eine allgemeine Menschlichkeit verunmögliche. Darum «Kill Venus!». Auf dass Männer und Frauen die Weiblichkeit (aus)leben dürfen «und die symbolischen Käfige verlassen, die unsere Zivilisation erbaut hat.»

Mut, zur ihrer Weiblichkeit zu stehen

Das Buch ist einerseits eine Tiefenbohrung in die Geschichte der Soziologie, der Medizin und der Gesellschaft, anderseits aber auch ein gut lesebares Buch, in das die Autorin auch persönliche Erlebnisse und Erfahrungen einflicht. Nicht zuletzt ihre Erfahrung als Tochter ihres verehrten Vaters, der dem Mädchen in den Fünfzigerjahren Vorbild für gelebte Menschlichkeit war und später – kurz vor seinem Tod – ein Beispiel für eine mögliche Glückseligkeit auch in der Schwäche und Hinfälligkeit des Alters: «Dein In-der-Zeit-Sein lässt mich heute an einen Tanz denken,» schreibt Bertola im Nachwort, «der das Leben bewegt, ohne dass wir irgendwo hingehen müssen.»

Marianne Lang hat das Buch von Lina Bertola zufällig in die Hände bekommen und war vom Inhalt derart berührt, dass sie spontan Kontakt aufnahm mit der Autorin und fragte, ob das Werk auch auf Deutsch erhältlich sei.

Das Buch «Kill Venus!» hat vor zwei Jahren im italienischen Original ein breites Echo gefunden. Leser*innen erkannten sich wieder und fanden den Mut, zu ihrer Weiblichkeit zu stehen und sie anzunehmen. Genau das passierte auch Marianne Lang Meier. Die pensionierte Ärztin lebt seit Jahrzenten im Tessin, ist aber in Bern aufgewachsen und hat hier Medizin studiert. Als junge Ärztin zog sie ins Tessin, arbeitete dort jahrelang als Onkologin und war danach mit einem Kollegen am Aufbau und am Betrieb einer Palliativ-Spitex beteiligt.

Marianne Lang und Lina Bertola bei einer Lesung im Tessin (Bild: zvg).

Marianne Lang hat das Buch von Lina Bertola zufällig in die Hände bekommen und war vom Inhalt derart berührt, dass sie spontan Kontakt aufnahm mit der Autorin und fragte, ob das Werk auch auf Deutsch erhältlich sei. «Ich wollte es unbedingt meinen Freundinnen in der Deutschschweiz schenken,» sagt die Wahltessinerin, die immer noch regelmässig in Bern ist, weil sie hier Familie und viele Freunde hat. Doch – wenig verwunderlich – Lina Bertolas Buch war auf Deutsch nicht greifbar. Woraufhin sich die pensionierte Ärztin gleich selbst ans Werk machte. Eigentlich wollte sie nur einige Kapitel übersetzen, und mit diesen Textproben bei einigen Verlagen Interesse wecken. Der Basler Schwabe Verlag, spezialisiert auf Philosophische Literatur, signalisierte Bereitschaft. Allerding unter der Voraussetzung, dass Marianne Lang gleich die ganze Arbeit übernehmen könnte. Und zwar möglichst schnell. Es musste zur Frankfurter Buchmesse 2022 auf dem Markt sein.

Sie war eine sehr präzise Frau und hat sich oft derart in die Bücher vergraben, dass sie uns Kinder gar nicht mehr wahrnahm. Einmal hat sie ein grösseres Werk übersetzt und hat wochenlang nichts anderes mehr gemacht.

Marianne Lang setzte sich nach einigem Bedenken hinter diese für sie ungewohnte Arbeit und schaffte es tatsächlich, «mit Unterstützung meiner Freunde, dem Ansporn meiner Kinder und ihrer Familien und der bereitwilligen Hilfe all jener, die mir mit konkreten Ratschlägen und bibliografischen Angaben zu den antiken Philosophen die Arbeit erleichtert haben», wie sie im Nachwort schreibt. Nun muss man wissen, dass Marianne Lang zwar ein Berufsleben lang Medizinerin war, aber auch ein Buch-Gen in sich trägt. Ihr Vater war Direktor beim Berner Wissenschaftsverlag Francke und ihre Mutter Buchhändlerin. «Sie war mir allerdings kein leuchtendes Beispiel für meine Arbeit,» sagt die Tochter rückblickend. «Sie war eine sehr präzise Frau und hat sich oft derart in die Bücher vergraben, dass sie uns Kinder gar nicht mehr wahrnahm. Einmal hat sie ein grösseres Werk übersetzt und hat wochenlang nichts anderes mehr gemacht.»

Im Eilzugstempo übersetzt

Marianne Lang tat es ihr nicht gleich. Im Eilzugstempo übersetzte sie den Text, nahm sich einige Wochen frei und übersetzte, auch einige Tage abgeschieden im Bleniotal, drei bis fünf Stunden täglich «mehr oder weniger am Stück». Alle Übersetzungen gab sie zum Durchlesen anschliessend noch Ivo Zononi, der selber auch ein Kapitel übersetzt hatte.

So wird jetzt auf Deutsch erklärt, was die Aufklärung mit dem Begriff der Weiblichkeit anstellte.

Mit der Materie habe sie keine Mühe gehabt. Lina Bertola schreibe auch für Laien verständlich und Italienisch sei ihr beinahe so vertraut wie die Muttersprache, sagt Lang, Probleme mit Fachausdrücken habe es deshalb kaum gegeben. Was ihr eher Kopfzerbrechen machte, waren eigenwillige Sprachschöpfungen der Autorin. Zum Beispiel der Begriff «il graffio della ragione» (wörtlich «das Kratzen der Vernunft»). Sie habe sich schliesslich für «das Hereinbrechen der Vernunft» entschieden. So wird jetzt auf Deutsch erklärt, was die Aufklärung mit dem Begriff der Weiblichkeit anstellte. Dieser Weiblichkeit, die schon von den griechischen Philosophen als das andere, das Sinnliche und Erdhafte beschrieben wurde, was den Begriff in Kontrast zum Wahren und Logischen setzte.

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Feier am 31. August in Bern

Der Schwabe Verlag (nota bene der älteste Verlag weltweit!) war jedenfalls sehr zufrieden mit der Übersetzung – und die Autorin ebenfalls. Der Titel «Kill Venus!» wurde beibehalten – im Gegensatz zum Cover! Während im Tessin ein Bild der Autorin als Kind auf den Schultern ihres Vaters zu sehen ist, kommt die deutsche Ausgabe mit einem angerissenen leicht verpixelten Porträt von Botticellis Venus daher. Eine Konzession an die Vormacht der geschaffenen und herzeigbaren Kunst vor dem sinnlich erlebten Gefühl? Der Unterschied zwischen Deutsch und Italienisch? Keine Ahnung, sagt die Übersetzerin, aber ihr gefällts.

Und Fakt ist: zwei Jahre nach der italienischen Ausgabe liegt dank Beharrlichkeit und Begeisterung einer Bernerin die deutsche Übersetzung von «Kill Venus!» in den Buchhandlungen. Und am 31. August feiern Autorin und Übersetzerin im Breitsch-Träff Vernissage (siehe unten). Und hoffen, dass der philosophische Wurf aus dem Tessin danach auch auf Deutsch Leserinnen und Leser berührt.

Lina Bertola, Autorin, und Marianne Lang Meier, Übersetzerin, stellen das Buch «Kill Venus! Das in Männern und Frauen verratene Weibliche befreien» vor.
Donnerstag, 31. August, 19.30 Uhr im Breitsch-Träff (Breitenrainplatz 27)
Türöffnung um 18.30, Eintritt frei, Kollekte