Man kennt Ernst Kreidolf (1863-1956) als Maler von Pflanzen und Tieren, als Gestalter einer belebten Natur, als Erzähler darin spielender Märchen. Seine Bilderbücher – von «Lenzgesind» bis «Ein Wintermärchen» – gehören noch immer zum Bestand der Literatur für Kinder. Sie sind ein wenig aus der Zeit gefallen, doch die als Menschenwesen dargestellten und mit unseren Eigenschaften gedachten Pflanzen bleiben frisch als eigenständige Wesen und Charaktere. Das ist sehr aktuell in unserer Zeit, die über Rechte der Pflanzen debattiert und sich diese als Subjekte vorstellt (ob im Kreidolf’schen Sinn bleibe dahingestellt). Dem Fröhlichen, Niedlichen, Pastelligen vieler Bilder gegenüber stehen das Ernstnehmen der Natur, ihrer Härte und Gefahren, die kräftigen Konturen und Farben der Aquarelle.
Indem das Kunstmuseum Bern (KMB) die Originale zeigt, Bild für Bild, und weniger auf den Erzählkontext von Kreidolfs zahlreichen Büchern und Mappen eingeht, wird das zeichnerische und malerische Können des Künstlers hervorgehoben. Die Aquarelle hängen an der Wand und sind als einzelne zu betrachten. Das wertet sie auf.
Kreidolfs Weg zum Künstler war lang. 1863 in Bern geboren, musste er schon als Kind auf den Bauernhof der Grosseltern in Tägerwilen umziehen, wuchs dort auf und absolvierte – den Künstlerwunsch vor Augen – in Konstanz eine Lehre zum Lithografen, bildete sich gestalterisch weiter und wurde schliesslich in die Kunstakademie in München aufgenommen. Mit den umfassenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, ein Buch mitsamt Titel, Vorsatzblatt und Schmuck zu gestalten und zu produzieren war er gerüstet für das schwierige Leben eines Freischaffenden, zuerst in Deutschland, von 1917 bis zum Tod 1956 in Bern. Die graphische Sammlung des KMB umfasst etwa 2‘500 Werke, den Nachlass und die Deposita des Vereins E.K. Die aktuelle Ausstellung ist eine Koproduktion des KMB mit der Städtischen Wessenberg-Galerie Konstanz, deren Leiterin zugleich den Verein E.K. präsidiert.
Der Eintritt in die Ausstellung im Zwischengeschoss des KMB geht nicht husch husch. Zum Schutz der Aquarelle ist das Licht stark gedimmt. Man muss sich ans Dunkel gewöhnen. Dann leuchten die oft hellen Aquarelle umso mehr, vom noch fast wissenschaftlich gezeichneten Blümlein hin zu den immer freier gestalteten Pflanzengruppen, die Gefühle, Haltungen und Geschichten ausdrücken. Ein Schlüsselwerk ist, wird erklärt, das 1894 entstandene blau-gelbe Aquarell «Schlüsselblumen, Enziane und Edelweiss», bei dem Kreidolf die Idee zum ersten Bild-Buch eingefallen sei, das er dank einer Fördererin realisieren konnte.
Zum Glück sparen die Kuratorinnen (Anna Lehninger, Barbara Stark, Sibylle Walther und Marianne Wackernagel) das Dunklere nicht aus: Aquarelle von Friedhöfen, die Kreidolf überall besuchte, zwei Darstellungen eines Traums, in dem sich weisse Hände aus einem Totenacker strecken, aber auch Ölbilder von Bäumen, Park und Wald, die nicht an die Aquarelle heranreichen.
Im hintersten Ausstellungsraum hängen, grazil und verspielt, von Kreidolf in den 1940er Jahren entworfene Kostüme nach den Alpenblumenmärchen für Kinderfeste (Leihgabe des Schweizerischen Nationalmuseums) vis-à-vis des wunderhübsch gestalteten Lesebuchs «Roti Rösli im Garte» für Kinder des III. Schuljahrs (1925). Man merkt: Ernst Kreidolf, kinderlos, konnte es mit Kindern. Und Kinder betrachten noch heute gern seine Bilderbücher.