«Wie Fliegen sterben sie weg», sagt Peter Brötzmann, der grosse alte Mann des deutschen Free-Jazz. Brötzmann lebt noch – und wie! Am letzten Sonntag spielte er im Berner Münster. Das letzte Stück widmete er dem Wahnsinnsdrummer Ronald Shannon Jackson, der zehn Tage davor in seiner Heimatstadt Forth Worth an den Folgen einer Leukämie-Erkrankung gestorben war. Der Wupperthaler Brötzmann spielt für den schwarzen Texaner Jackson, und das mitten in der sonntagabendlich düsteren Kathedrale zu Bern! Trauer, Unruhe, Verzweiflung, aber auch Trost waren hier plötzlich gemeinsam zu Gast.
Diese Revolte aus Free-Jazz, Funk und Punk beeindruckte mich damals stark.
Christian Pauli
Mitte der 80er-Jahre stürmten Brötzmann und Jackson mit Last Exit – im Avantgarde-Superstar-Quartett zusammen mit Sonny Sharrock und Bill Laswell – die Bühne im Restaurant Schweizerbund in der Länggasse. Diese Revolte aus Free-Jazz, Funk und Punk beeindruckte mich damals stark. So umstürzlerisch und befreiend wirkte das auf mich, wie vielleicht nur die grossen Zaffaraya- und Reitschule-Demos ein paar Jahre später.
Am letzten Sonntag starb auch Lou Reed. Zeit, um in Erinnerungen zu kramen. Erinnerungen sind eine Hölle mit Spiegeln – und seit geraumer Zeit googlebar. Mit ein paar Klicks hat man das schnell wieder beisammen: Lou Reed war vom 1. bis 3. Mai 2006 in Bern zu Besuch, quasi inkognito, als Begleitung seiner Partnerin Laurie Anderson, die in der Dampfzentrale mit ihrem Programm «The End Of The Moon» auftrat. Wir hatten das unerwartete Vergnügen, die beiden während dreier Tage zu begleiten.
Lou war in Hochform, herzlich, lustig, einfach wie ein Kumpel.
Christian Pauli
Wo anfangen? Bei der gemeinsam gegessenen Nudelpfanne (vier Gabeln, ein Teller) bei einem Asiaten in der Münstergasse? Lou war in Hochform, herzlich, lustig, einfach wie ein Kumpel. Oder beim anschliessenden Theaterbesuch im Schlachthaus, der für Laurie und Lou einem Alptraum gleichkam? Lou sprach von «the worst ever» und liess uns einfach stehen.
Oder der nicht enden wollende Besuch der Einstein-Ausstellung im Historischen Museum, durch die Lou Reed wie ein staunendes Kind stolperte und uns alle – Museumsdirektor, Partnerin Laurie, eine ganze Berner Delegation – gefühlte Ewigkeiten warten liess?
Oder die mehrhundertfränkige Flasche Weisswein, die Lou zuerst mit Eis und Zitrone verunstalten liess und dann einfach stehen liess, um eine neue zu bestellen (und auch zu bezahlen)? Oder das Brandloch im gestreiften Pulli, und die Jaeger-LeCoultre am Arm von Lou Reed?
Erinnerungskrämerei hat ja etwas Peinliches. Auf Spotify höre ich mir gerade die ultimative Lou-Reed-Songliste von Christian Krach an. Lou Reed und Velvet Underground als werbefinanzierter Stream. Seltsam ist, dass ich Lou Reed fast weniger als Musiker denn als unerwarteten Gast, als eigentümlichen Menschen in Erinnerung habe.
Ich sah ihn nur einmal auf der Bühne. Das war nix, oder einfach nur bizarr.
Christian Pauli
Auf der Bühne sah ich ihn nur einmal, anlässlich der Reunion-Tour von Velvet Underground im Sankt-Jakobs-Stadion in Basel, als Support von U2. Das war nix, oder einfach nur bizarr. Später dann, am 6. Oktober 2009, hatten wir Lou Reeds Metal Machine Trio für die Dampfzentrale gebucht. Die Booking-Sensation entpuppte sich als maximaler Frust. Lou Reed, respektive sein New Yorker Management, respektive sein extrem ungemütlicher Statthalter in London, sagten einen Tag vorher ab, und zwar aus «extrem personal issues». Mehr war da nicht zu erfahren. Und Lou Reed, der uns in Bern drei Tage Wundertüte und eine fette Enttäuschung beschert hatte, sah ich nie mehr.
Jetzt ist er weg. Zurück bleiben Laurie Anderson, vermutlich auch die beiden Hunde, die sie in Manhattan jeweils zum Zmittag in ihre Stammkneipe ausführten, und bleiben tut auch Peter Brötzmann. Überhaupt die Musik. Sie überlebt uns Fliegen, auch wenn sie nur noch ein bescheuerter Stream ist.