Wer sich von Zeit zu Zeit auf dem ummauerten Platz hinter dem Münster einfindet, weiss genau, die Plattform ist nicht nur ein Spielplatz für die Kleinen. Fast täglich kann man hier auch eine «Tschuppele» in ihr Kugelspiel vertiefte Erwachsene beobachten.
Erinnern Sie sich noch an das «Chugelispiel» Ihrer Kindheit? An die kleinen bunten Tonmurmeln, die mit den etwas grösseren, oft ebenso kunstvoll gestalteten Glaskugeln abgeschossen werden mussten, um möglichst viele von jenen in den eigenen Besitz zu bringen? Nicht viel anders präsentiert sich auf den ersten Blick die Gruppe von Spielern auf der Plattform: Als mit viel Ernsthaftigkeit aber mit ebenso viel Freude spielende grosse Kinder, respektive Kinder gebliebene Erwachsene.
Spielen mit Kugeln
Wer schon einmal im südlichen Frankreich Ferien gemacht hat, bei dem werden beim Anblick der Szenerie auf der «Pläfe» auch andere Erinnerungen wach – an ein malerisches südfranzösisches Städtchen, wo in sommerlicher Hitze unter den Bäumen auf dem Dorfplatz die ältere männliche Bevölkerung ins tägliche Boulespiel vertieft ist. Jeder Teilnehmer besitzt drei etwa faustgrosse Metallkugeln, mit denen auf ein viel kleineres, farbiges Kügelchen gezielt wird, um seine eigenen möglichst nahe daran zu platzieren, oder um die kleine Kugel möglichst weit von den Kugeln der anderen wegzuschubsen. Ganz ähnlich wie beim Murmelspiel unserer Kindheit. Das genaue Zielen und Platzieren erinnert auch etwas an Billard oder an Curling. Und dann gibt es da noch das sehr ähnlich anzuschauende Boccia-Spiel aus Italien, dessen Kugeln jedoch aus Holz oder Kunststoff gefertigt sind.
Frankophonie auf der Pläfe
Will man genauer hinter die Regeln des Boule, diesem offensichtlich ganz eigenen Geschicklichkeitsspiel kommen, wer könnte uns besser Auskunft darüber geben als die Spieler selbst? «Wir spielen Pétanque, das ist eine der häufigsten Varianten des Boule-Spiels, dem Volksspiel der Franzosen», gibt uns ein Teilnehmer aus der Kramgasse kompetent Auskunft. Er ist seit zwölf Jahren aktives Mitglied des Pétanque Club Wohlen und einer der Ambitionierten hier auf dem Platz und hat schon an internationalen Turnieren gespielt. Den PC Wohlen gibt es seit 2006, er ist im «Kreuz» in Wohlen beheimatet und bietet dort die Möglichkeit, auf 12 Bahnen zu spielen. Einige seiner über 60 Mitglieder sind für die C-Liga des Deutschschweizer Pétanque Verbands SAP (der wiederum Mitglied des Fédération Suisse de Pétanque, FSP ist) lizenziert und können an nationalen und internationalen Spielen teilnehmen.
Doch nicht die Wohlener sind der älteste oder grösste Club Berns, sondern die «Boulissima Bern», die es seit 1994 gibt, und die gleich doppelt so viele Mitglieder zählt wie der PC Wohlen. Ihr Clublokal, das Boulissidrôme, befindet sich im Soussol des Ziegler-Areals. Etwa ein Drittel der Mitglieder spielen ebenfalls – so wie noch ein paar weitere Deutschschweizer Clubs – in der C-Liga mit. Und was ist mit der A und der B Liga? Die A-Liga erreichten bisher nur Welschschweizer Clubs, und in der B-Liga sind die Luzerner zurzeit die einzigen nicht-welschen Teilnehmer. Wie frankophon die ganze Sache tatsächlich ist, beweist die Fachsprache Französisch, in der alles rund ums Spiel benannt ist, bis hin zum kleinen Kügelchen, «but» (Ziel) oder liebevoll «cochonnet» (Schweinchen) geheissen, weil es ja dauernd im Dreck liegt und immerzu geschlagen wird.
Von der Beobachtungs-Bank auf der Plattform aus kann man dem Spiel in aller Ruhe zuschauen und zuhören. Neben dem Berndeutschen sind hie und da auch französische Sprachbrocken zu vernehmen, die nicht nur die Fachsprache des Boule betreffen, denn unter den Spielern befinden sich immer einige Migranten aus Ländern der ehemaligen französischen Kolonien, die hier im Boulespiel ein kleines Stück Heimat wiedergefunden haben. So wird die Berner «Pläfe» zu einem spielerischen Ort für Integration.
Boule – eine Geschichte und ihre Variationen
Lassen Sie uns etwas in die Geschichte des Pétanque abtauchen: Kugelspiele dieser Art können bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden, doch beginnt der Werdegang des eigentlichen Boule erst im 19. Jahrhundert. Entgegen der Annahme, dass die frühesten Zeugnisse davon aus Frankreich stammen, kennen wir erste Spielregeln von 1849 aus Schottland. Irgendwann in den folgenden vierzig Jahren muss das Spiel über den Ärmelkanal gebracht worden sein, denn 1894 tauchen Regeln in Paris, dann in Lyon auf, wo 1904 der erste bekannte Club und mit ihm die Boule-Variante «Lyonnaise» begründet wurde. Schon 1897 findet man erste italienische Regional-Clubs im Piemont, in Rivoli und Turin. Und weiter westlich hatte der Trend 1907 die Provence erreicht und im Sturm erobert, wo bald ein Spiel mit etwas kleineren Kugeln, das «Jeu Provençal», entstand.
Innert drei Jahren entwickelte sich aus dieser provenzalischen Spielvariante in Marseille das «Pétanque». Der Name kommt angeblich aus dem französischen Begriff «pieds tanqués» – geschlossene Füsse, und bezeichnet die neu etablierte Ausgangsposition beim Werfen der Kugel: Nun musste man innerhalb eines Kreises von etwa 50 Zentimetern Durchmesser ruhig stehen – wenn man möchte auch hocken; anscheinend mit Rücksicht auf einen gebrechlichen Mitspieler wurde die Variante etabliert. Man stand nicht nur ruhig da sondern spielte auch das kleine Cochonnet nun auf kürzere Distanz, das heisst, von den einst 15 bis 21 Metern Spielweite blieben nur noch 3 respektive 6 bis 10 Meter übrig. Im Viertel «La Ciotat» in Marseille, am legendären Ursprungsort dieses Spiels, gibt es heute eine – später danach umbenannte – Avenue de Pétanque.
Die freie Spielszene – nicht nur alte Männer!
Zurück auf der Plattform hat sich inzwischen Georg Voss, von allen Giorgio genannt, zu uns auf die grüne Bank gesetzt. Er entdeckte das Boulespiel während eines Ferienaufenthaltes im Luberon, und ein Bekannter, der Berner Künstler Heinz Inderbitzi, hat ihn danach der Pläfe-Spielgruppe vorgestellt. Giorgio hat drei zusätzliche Kugeln mitgebracht, und das heisst für die Redaktorin: Nid lafere, mitschpile! Da jedoch nur mit Füssen, Händen und Augen gespielt wird, hat sie zwischendurch ganz gut Zeit, Fragen zu stellen. Vorab informiert Giorgio den Neuling darüber, dass es auf dem Bouleplatz nicht nur Spiel- sondern auch ein paar Benimm-Regeln zu beachten gilt. «Wir sind alle per Du, und wir sind immer höflich zueinander.» Man findet diese «Knigge-Regeln für angenehme Pétanque-Spieler» – und irgendwie wird man den Verdacht nicht los, mit einem kleinen Augenzwinkern – aufgeschrieben im Internet von Karl-Heinz Erhard. «Das Schöne am Pétanque-Spielen», sagt Giorgio, «es ist ein für jedermann geeigneter Sport, nicht kostspielig, ohne materiellen oder organisatorischen Aufwand. Und man kann fast überall spielen, im Gegensatz zum italienischen Boccia, das immer auf einer sehr ebenen Bahn gespielt werden muss.»
Giorgio präsentiert sein Spielset. «Das kostet im Minimum zwanzig, im Maximum bis dreihundert Franken, irgendwo dazwischen sollte es der Qualität halber aber schon sein.» Und dann gibt es auf dem Platz gleich ein Extra-Zubehör in Aktion zu beobachten: Ein älterer Herr, dem das Bücken etwas schwer zu fallen scheint, trägt in der einen Hand eine fast bodenlange Schnur, an deren Ende ein starker Magnet hängt. Mit einem kurzen Antippen erfasst er damit die Eisenkugel und befördert sie auf diese Weise mühelos in seine andere Hand. Und plötzlich ist es wieder da, das Klischeebild der alten boule-spielenden Provençalen! Pétanque – ein Spiel für alte Männer?
Poetische Stimmung
Da hält Margrit Bieri Deschenaux aus der Gerechtigkeitsgasse aber vehement dagegen; sie macht eine Spielpause und gesellt sich zu uns. «Obschon der durchschnittliche Anteil der Frauen in diesem Sport leider kaum über zwanzig Prozent beträgt, ist er hier auf der Pläfe sogar etwas höher, da bin ich mir ziemlich sicher.» Margrit kam wie viele andere über gemeinsame Bekannte zum Boule. Vor allem ist ihr – nebst der Bewegung und der Konzentration – der soziale Aspekt des Spiels sehr wichtig. Inzwischen ist sie regelmässig zwei- bis dreimal pro Woche hier anzutreffen, auch wenn’s regnet – oder erst recht. «Dann ist die Stimmung wirklich poetisch», schwärmt sie. Und Giorgio setzt noch einen drauf: «Wir spielen hier Sommer und Winter!» Dazu hat er für die Gruppe ein paar einzigartige Zubehörteile geschaffen: An einer langen Stange tragbare mit Rechaudkerzen oder Spiritus-Brenner beheizte Wärmeöfeli. Die sind für die Metallkugeln, die im Winter sonst oft eisigkalt werden. Die Varianten der Öfeli zeugen von Phantasie: Das eine ist aus einer alten Militärgamelle gefertigt, ein anderes aus zwei Teebüchsen, weitere aus hölzernen Weinkistchen. Sie ist also nicht nur spielerisch, sondern offensichtlich auch erfinderisch, diese Pétanquegruppe auf der Berner Plattform! Dazu passt wunderbar das Motto-Zitat der «Boulissima», das sie ihrer Website vorangestellt hat: «Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt» (Friedrich Schiller in seinen «Gedanken zur ästhetischen Erziehung des Menschen»).
Aus: BrunneZytig Nr 2/2019