Partnerschaft mit Chinas Silicon Valley

von Lucie Bader 26. November 2019

Der Kanton Bern hat vor vier Jahren eine Partnerschaft mit der südchinesischen Stadt Shenzhen aufgebaut. Letzte Woche hat eine Berner Wirtschaftsdelegation zusammen mit der Standortförderung des Kantons Bern und einem kleinen Filmteam Shenzhen, das Silicon Valley Chinas, besucht.

Kein Menschengewusel auf dem Trottoir, beinahe kein Motorenlärm auf den mehrspurigen Strassen, keine Hektik in den Geschäften. Wie kann es sein, dass in einer Megapolis mit 13 Mio. EinwohnerInnen der Eindruck entsteht, in einer leisen Stadt zu sein? Es sind nicht nur die vielen Bäume, die die Strassen säumen, und die 144 grünen Stadtpärke, die zwischen den Wolkenkratzern liegen, die den Lärm schlucken. Es sind die lautlosen Fahrzeuge, die einem dieses Gefühl einer ruhigen Stadt geben: Sämtliche 17’000 Busse sowie ein Grossteil der Taxis und der Privatfahrzeuge sind elektrisch betrieben. 

Unter dieser Oberfläche liegt eines der ausgedehntesten Metronetze der Welt mit vielen unterirdischen Geschäftsstrassen. Und darüber glänzt das Wahrzeichen der Stadt, das beinahe 600 Meter hohe Ping An International Finance Center – der vierthöchste Wolkenkratzer der Welt.

Kein Wunder, bläst einem hier der Wind einer modernen Stadt entgegen: Shenzhen ist die Stadt, die in der Geschichte der Menschheit am schnellsten gewachsen ist. War sie vor 40 Jahren noch ein Fischerdorf mit wenigen Tausend EinwohnerInnen, ist sie heute eine High-Tech City mit einer Bevölkerung von 13 Millionen, Tendenz steigend, bei gleichzeitiger Vollbeschäftigung der Bevölkerung, deren Durchschnittsalter gerade mal 33 Jahre beträgt.

High-Tech in der Sonderwirtschaftszone

In Shenzhen sind zahlreiche Technologiefirmen angesiedelt. Die Berner UnternehmerInnen nehmen einen Augenschein in mehreren Firmen in den Bereichen Telekommunikation, Künstliche Intelligenz, Drohnen- und Robotertechnologie sowie Präzisionstechnologie. «90% der Firmen sind in privatem Besitz, nur gerade 10% sind in staatlicher Hand», erklärt Richard Zhong, Deputy Director General des Foreign Affairs Office der Stadt. Shenzhen war Ende der 70er Jahre von Deng Xiaoping zur Sonderwirtschaftszone erklärt worden und hat sich seither zu einem wirtschaftlich prosperierenden Zentrum mit vielen Start-ups entwickelt. Dengs Parole «Lasst den Westwind herein; Reichtum ist ruhmvoll» war Ausgangspunkt einer zielstrebigen Realisierung des neuen Wirtschaftsstandortes.

Huawei Technologies in Shenzhen

Ein Highlight des mehrtägigen Programms ist der Besuch des Telekommunikationsriesen Huawei. Die 28 BesucherInnen aus Bern, vorwiegend ExpertInnen im Bereich der Informatik und Mitglieder des Digital Impact Networks, lassen sich auf dem weiträumigen Firmengelände herumführen. In einem Showroom werden auf grossen Bildschirmen Anwendungsbeispiele der 5G-Technologie und der Künstlichen Intelligenz präsentiert. Eine Produktionsstätte, in welcher Mobiltelefone hergestellt werden, verblüfft mit ihrer Grösse und Effizienz. Die Filmkamera muss hier jedoch draussen bleiben. Schliesslich kann bei einer Zugfahrt durch die «European Town», einer nach europäischen historischen Gebäuden nachgebauten Stadt, der Campus der Forschungsaktivitäten von aussen bestaunt werden.  

Huawei beschäftigt weltweit 194’000 Angestellte, 96’000 arbeiten im Bereich Forschung und Entwicklung. «Die Quantifizierung des Bildes ist eine der revolutionärsten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte», kommentiert in exzellentem Englisch ein Huawei-Firmensprecher, und verweist auf die zahllosen Anwendungsmöglichkeiten der Gesichts- und Verhaltenserkennung von Mensch und Tier, die alle zu mehr Sicherheit und Wohlergehen führen sollen. Bedingung hierfür ist ein 5G-Netzwerk, damit die aufwändigen Algorithmen die enormen Datenmengen verarbeiten können. Nur so ist es laut dem Firmensprecher möglich, bessere Dienstleistungen im Alltag zu erreichen. 

Faszination und Irritation

Faszination, aber auch Irritation und Kopfschütteln machen sich bei den BesucherInnen breit. Immer wieder stehen Fragen nach dem Umgang mit Daten und nach dem Schutz der Privatsphäre im Raum. «So ist China einmal Vorbild, dann wieder Feindbild, oder beides zugleich – immer aber Zerrbild.» beschreiben Stefan Baron und Guangyan Yin-Baron in ihrem neuen Buch «Die Chinesen – Psychogramm einer Weltmacht» das westliche China-Bild. Und es fällt auf, dass China immer mit westlichen Augen gesehen und aus einer ethnozentrischen Perspektive bewertet wird. Eine Annäherung an die fremde Kultur und die andere Denkweise verändern den Blick. In diesem Sinne ist die Reise eine Entdeckungsreise wie sie Marcel Proust sich vorstellte: «Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landstriche zu suchen, sondern mit neuen Augen zu sehen.»

Interkulturelle Erfahrungen

Obwohl in der Stadt überall Überwachungskameras stehen, über die Daten von Tausenden von Menschen gesammelt und ausgewertet werden, ist es offenbar noch nicht gelungen, anhand einer Aufnahme adäquate Aussagen über das Alter einer westlichen Frau zu generieren. So wird in einem Testprogramm eine 60jährige Schweizerin gerade mal auf 28 Jahre geschätzt. Dies sei auf die fehlende Datenmenge zurückzuführen, erklärt ein Experte. Auch Algorithmen müssten eben noch lernen!

Lernen steht auch für die Teilnehmenden im Mittelpunkt dieser Reise, und zwar meistens auf eine angenehme und überraschende Weise. Für viele ist diese Exploration eine Art berufliche Weiterbildung und kulturelle Horizonterweiterung. Das gilt auch für die Kulinarik. Das Essen hat einen hohen Stellenwert in der chinesischen Gesellschaft. So erfahren die BesucherInnen, dass bei der Pflege sozialer Kontakte oder Geschäftsbeziehungen das Essen im Vordergrund steht. Eine Lektion, die bei späteren interkulturellen Begegnungen bestimmt von Nutzen sein kann.  

Offene Perspektiven

Die Studienreise ist einerseits ein Ausflug in das Universum der neuesten Technologie, anderseits auch eine eindringliche Konfrontation mit Fragen nach dem Einsatz dieser Möglichkeiten. Bestimmt lassen sich diese aufgrund der in Shenzhen gemachten Erfahrungen vielfältiger diskutieren als vorher. Etliche chinesische Entscheidungsträger bekunden Interesse an künftigen Kooperationen mit hiesigen Forschungs-, Lehr- und Produktionsstätten. Sebastian Friess, Leiter der Standortförderung des Kantons Bern, betont die starke Innovationskraft, die die beiden Wirtschaftsstandorte verbinde. Auch der Kanton Bern habe viel Attraktives zu bieten, von hochqualifizierten Arbeitskräften, einer guten Infrastruktur und einer Spitzenforschung an der Universität bis hin zum Switzerland Innovation Park Biel/Bienne.

Die Studienreise nach Shenzhen war kein Blick in die Zukunft, denn dort ist die Zukunft bereits Realität. Ob der vermehrte Austausch mit dieser neuen Welt Perspektiven für eine aktivere Partnerschaft eröffnet, wird sich weisen: Im nächsten Jahr wird das fünfjährige Jubiläum dieser Partnerschaft zwischen dem Kanton Bern und Shenzhen gefeiert, und es wird eine erste Bilanz gezogen werden. Der Besuch in Shenzhen entzerrte viele schiefe Vorstellungen und korrigierte alte Vorurteile. Das zeigen auch die Interviews, die das Filmteam am Ende der Reise mit den Teilnehmenden machte. Diese waren beeindruckt von der Dynamik der chinesischen Wirtschaftsmetropole, dem köstlichen Essen und der Gastfreundschaft der Leute – das ist bereits jetzt ein sehr positives Ergebnis.