«Paranoia ist ansteckend»

von Susanne Leuenberger 1. Februar 2022

Das Kino Rex zeigt in der Filmreihe «Pandemic Paranoia» 13 US-amerikanische Verschwörungsthriller. Der Filmwissenschaftler und Kurator der Reihe, Johannes Binotto, erklärt, was der Protagonist des Kultfilms «Taxi Driver» mit den Coronaleugnern und Kapitol-Stürmern der Gegenwart gemein hat.

Johannes Binotto, Sie beschäftigen sich filmtheoretisch mit der aktuellen Pandemie, und schreiben, dass Paranoia und Verschwörungstheorien ansteckend sind. Wie das?

Natürlich meine ich das nicht medizinisch, doch aus einer gesellschaftlichen Perspektive betrachtet sind Verschwörungsfantasien ein Symptom von Corona. Corona ist ja nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern auch eine Wahrnehmungskrise: Was können wir glauben, was nicht? Wer ist schuld an der Pandemie? Wer profitiert davon?

Die meisten Verschwörungstheorien sind unglaublich abstrus. Warum glauben Menschen etwa an Echsen, die die Weltherrschaft übernehmen wollen?

Ich denke, der Schlüssel ist nicht der Inhalt der Theorien. Der muss nicht besonders konsistent oder plausibel sein. Mehr noch: Gegen Argumente sind Verschwörungstheoretiker*innen immun. Denn bei paranoiden Vorstellungen geht es vielmehr darum, Kontrolle zurückzuerlangen. Dies geschieht, indem man Zweifel mit einer unanfechtbaren Gewissheit überdeckt. Dabei sind Ungewissheit und Zweifel in einer Krisensituation, wie wir sie heute erleben, ja unvermeidlich.

Weil letzlich niemand weiss, wie es weitergeht.

Ja, und auch eine Portion Zweifel an den täglich verbreiteten Informationen ist berechtigt, zumal auch Politiker wie Johnson oder Bolsonaro nicht vor Fake News zurückschrecken und wir alle wissen, dass mächtige Menschen und Institutionen eine Agenda haben. Das macht das ganze tricky. Das Vertrauen in Medien und Politik kann gestört sein, und diese Un­eindeutigkeit auszuhalten, ist nicht einfach. Der Schritt in die Paranoia scheint ein Ausweg.

Sie zeigen im Rex eine Filmreihe mit Paranoia-Thrillern. Darunter sind Filme wie «Taxi Driver», aber auch «The Truman Show». Was haben diese Filme mit der Virulenz von Fake News oder Coronamythen zu tun?

Einiges. Alle diese Filme beschäftigen sich auf die eine oder andere Art und Weise mit einer Verunsicherung, einer Krisenerfahrung, die durch den paranoiden Anspruch, alles zu durchschauen, verstellt wird. In «Taxi Driver» haben wir es mit dem eigentlich traumatisierten Kriegsveteranen Travis Bickle zu tun, der zum Amok­läufer und einsamen Rächer wird, in «The Truman Show» erkennt der Protagonist, dass sein ganzes bisheriges Leben für eine Reality-Show inszeniert wurde. Stanley Kubricks Satire «Dr. Strangelove» wiederum handelt von einer irren Welt kurz vor der atomaren Apokalypse. Das alles sind Motive und Vorstellungen, die uns heute bekannt vorkommen müssen.

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«You talkin’ to me?»: Robert de Niro in der Rolle von Travis Bickle, dem legendären Paranoiker in «Taxi Driver». (Foto: zvg)

Alle Filme der Reihe stammen aus den USA. Ist Amerika besonders affin für Verschwörungen?

Ich würde sagen ja, und dies nicht erst seit Watergate, 9/11 oder Trump. Vielmehr hängt das mit dem Selbstverständnis der Vereinigten Staaten zusammen. Die messianisch aufgeladene Vorstellung von «Gods Nation» prägt das Selbstbild der USA, die ja von Glaubensflüchtlingen begründet wurden. Das klassische Hollywood erzählt entsprechend gerne ganz grosse Heldengeschichten, in denen ein sympathischer Aussenseiter zum Retter wird, und Gut gegen Böse gewinnt. Die Grandiosität und Zweifelsfreiheit dieses Mythos hat etwas Wahnhaftes. Es waren unter anderem Regisseure des «New Hollywood» wie Francis Ford Coppola, Martin Scorsese oder Alan Pakula, die ab den späten 1960er-Jahren damit brachen: Sie nahmen die Erfahrung von Watergate, Vietnam, die Ermordung von Kennedy und von Martin Luther King auf. Ihre Filme zeigen die Kehrseite der amerikanischen Rettergeschichte, ihre Abgründe.

Wie taten sie das?

Auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Coppolas «The Conversation» aus dem Jahr 1974 handelt von einem Abhörspezialisten, der sich durch seine Bespitzelungstätigkeit in einen Mord verstrickt und selber mehr und mehr an Verfolgungswahn leidet. Sehr spannend ist aber auch der 1968 entstandene Zombiefilm «Night of the Living Dead», in dem der Held der Geschichte ein Schwarzer ist. Es gelingt ihm, die menschenhirnfressenden Untoten abzuwehren – doch am Ende wird er von einer weissen Bürgerwehr erschossen.

In Zeiten von Black Lives Matter könnte der Film nicht aktueller sein.

Leider, ja. Viele Paranoia-Filme haben fast schon etwas prophetisches, etwa «The Manchurian Candidate». Er entstand 1962, mitten im Kalten Krieg, und zeigt einen Korearückkehrer, der als Kriegsheld gefeiert wird, in Wahrheit aber von den Kommunisten durch Hypnose dazu gebracht wird, die amerikanische Gesellschaft von innen zu infiltrieren und den Mord an einem Präsidentschaftskandidaten zu planen. Nur wenige Monate später wurde Kennedy ermordet.

Ist Paranoia auch im zeitgenössischen US-Kino Thema?

Absolut. Ein faszinierendes Beispiel ist etwa der Thriller «She Dies Tomorrow» von Amy Seimetz, der 2020 in die Kinos kam. Im Film erwacht die Protagonistin Amy mit dem Wissen, dass sie tags darauf sterben wird. Bald wird auch ihr Umfeld von der Gewissheit, am nächsten Tag tot zu sein, befallen. Dieses Wissen ist ansteckend. Der Film nimmt auf fast unheimliche Art und Weise die Corona-Pandemie vorweg. Dabei wurde er vor deren Beginn abgedreht und produziert.

Sind Paranoia-Thriller eine Art Gegenmittel zu Wahn und Paranoia?

Ja und nein. Ein Film kann letztlich unterschiedlich aufgenommen, und auch missverstanden werden. Scorseses «Taxi Driver» etwa wurde von der neuen Rechten vereinnahmt. Sie identifizieren sich mit Travis Bickle und seinem einsamen Endkampf. Ähnliches passierte in neuerer Zeit auch mit Arthur Fleck, dem Protagonisten von Todd Phillips «Joker» oder den Figuren von David Finchers «Fight Club».

Allesamt toxische Männerfiguren, die äussert ge­walttätig sind.

Und äusserst realistisch: Man kann sich bestens ausmalen, dass Bickle oder Fleck an der Stürmung des Kapitols teilgenommen hätten… Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Trotz der Gefahr der Identifikation seitens der Rechten – Paranoia-Thriller können gerade ein Gegenmittel zu Paranoia sein, weil sie uns vorführen, wie gefährlich und unerfüllbar unser Wunsch nach restloser Eindeutigkeit ist.

Gibt es einen Film in der Reihe, dem das besonders gut gelingt?

«The Parallax View» von Alan Pakula aus dem Jahr 1973 gilt als «Mutter aller Verschwörungsfilme». Er handelt von einem Journalisten, der eine Sektenorganisation infiltriert, die politische Attentate verübt. Doch immer weniger ist klar, wer hier Verschwörer ist und wer nicht dazu gehört. Pakula arbeitet nicht nur inhaltlich, sondern auch filmisch mit Verfremdungsmomenten: So irritieren seltsame Bildeinstellungen, die Chronologie zeigt Brüche oder manchmal stimmen Bild und Ton nicht überein. Im Grunde ist der Film selbst paranoid. Er entlässt das Publikum verunsichert und im Zweifel über die Geschichte. Aber das ist an sich ja nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Eher heilsam.