Ohne Heimat sind wir überall fremd

von Christoph Reichenau 5. Dezember 2022

«Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz» heisst die neue Ausstellung im Alpinen Museum. Sie holt weit aus und sie fokussiert scharf. Es geht um Mitholz, das Dorf der Munitionsexplosion 1947 ebenso wie das Dorf, das nun geräumt und dessen Bevölkerung evakuiert, enteignet und umgesiedelt werden soll. «Ein Herkulesprojekt» nennt das die Verteidigungsministerin. Eines, das uns alle betrifft, zeigt das Museum. Denn ohne Heimat sind wir alle Fremde.

Vorausgeschickt sei: Als Erweiterung der Ausstellung gibt es ein umfangreiches Magazin «Über Heimat nachdenken». Vertiefende Beiträge von fünf Autorinnen und Autoren sind angekündigt: zur Risikogesellschaft, über die Berggebiete, über unsere Häuser, zum Glauben an die Berge, über das Erinnern und Vergessen. Der Artikelschreiber hatte noch keine Zeit, darin zu lesen. Es kann deshalb sein, dass einzelne seiner Überlegungen sich mit Inhalten aus dem Magazin überschneiden.

Heimat. Die für mich schönste Umschreibung, klar und doch geheimnisvoll, stammt vom deutschen Philosophen Ernst Bloch (1885-1977). Sein dreibändiges Werk «Das Prinzip Hoffnung», erschienen in den 1950er Jahren, mündet in diese Sätze:

Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, der Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäusserung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.

Bloch versteht Heimat als etwas Neues, erst zu Gestaltendes, als noch-nicht, als Utopie. Einmal entstanden, ist Heimat der Urgrund der Befreiung, der Beginn des gleichberechtigten, demokratischen, solidarischen Zusammenlebens. Diese Heimat kann man nicht verlieren, man muss sie erst erschaffen.

Eichendorff hat gedichtet: «Wir sehnen uns nach Hause / Und wissen nicht, wohin?»

Heimaten, verlassen und verändert

Christiane Hoffmann, ehemalige Journalistin und heute stellvertretende Sprecherin der deutschen Bundesregierung, erzählt im Buch «Alles, was wir nicht erinnern» (2022) von ihrem Fussmarsch über den 550 Kilometer langen Fluchtweg ihres Vaters im Januar 1945 vom damals ostpreussischen Rosenthal (heute Rozyna Polen) gegen Westen. Hier ist Heimat das, was man zurücklässt, unwiederbringlich.

Untergegangen sind Heimaten auch in der Schweiz: Die für den Sihlsee planmässig überflutete Landschaft (1932), das im Stausee untergegangene Bündner Dorf Marmorera am Julier (1954), weitere Siedlungen, die dem technischen Fortschritt weichen mussten, damit Strom erzeugt werden konnte. Auch diese Dörfer waren Heimat für die dort zum Teil seit Generationen Lebenden, die sich ein Leben anderswo kaum vorstellen konnten, gewiss nicht wünschten, und die dennoch weichen mussten nach politischen Entscheidungen, durch Enteignungen, unter Versprechungen, finanziellen Entschädigungen, Druck.

Nicht vollständig untergegangen, aber doch teilweise bis fast zur Unkenntlichkeit verändert wurden seit den 1960er Jahren durch den Bauboom und das Autozeitalter mit breiten neuen Strassen zahlreiche Dörfer und Städtchen. Der Illustrator Jörg Müller hat in seinen grossformatigen farbigen Bildertafeln «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder Oder Die Veränderung der Landschaft» (1973) sowie «Hier fällt ein Haus, dort steht ein Kran und ewig droht der Baggerzahn oder Die Veränderung der Stadt» (1976) eigentliche Klassiker dazu geschaffen. Und der Architekt Rolf Keller rüttelte 1973 mit schwarz-weissen Fotografien aus Dorfkernen auf («Bauen als Umweltzerstörung, Alarmbilder einer Un-Architektur»).

Max Frischs Gedanken

Der Schweizer Schriftsteller, der Heimat als politischen Begriff in seinem Werk etablierte, ist Max Frisch. Im Tagebuch 1966-1971 steht einer seiner berühmten Fragebögen zur Heimat. Daraus drei Fragen von 25:

  • «Was bezeichnen Sie als Heimat: ein Dorf?, eine Stadt oder ein Quartier darin? Einen Sprachraum? Einen Erdteil? Eine Wohnung?»
  • «Wieviel Heimat brauchen Sie?»
  • «Warum gibt es keine heimatlose Rechte?»

Ja, weshalb glauben die politisch Rechten bis heute, Heimat und was diese ausmacht, gepachtet zu haben und anders Denkenden Heimatgefühle, gar eine Liebe zur Heimat absprechen zu dürfen?

Frisch hat 1955 zusammen mit Fachleuten im Büchlein «achtung: Die Schweiz» einen «Vorschlag zur Tat» gemacht, nämlich auf die Landesausstellung 1964 in Lausanne hin eine Stadt neu zu gründen, die den Anforderungen der Zeit entspricht. In diesem konzentrierten Werk stehen Sätze, die gerade mit Bezug zu Heimat noch heute bedenkenswert sind:

«Wir leben provisorisch, das heisst: Ohne Plan in die Zukunft.» / «Wie möchten wir denn wirklich wohnen in dieser Zeit, die sehr viele Menschen auf engem Raum vereint, wie?» / «Wir sind an einem Punkt, wo die Freiheit nur noch durch Planung zu retten ist.» / «Wir selber sind Schweizer genug, um lauter Schwierigkeiten zu sehen, und das erscheint uns gerade das Spannende daran.» / «Was ist zu tun? Wir wissen es nicht. Wir haben keinen fertigen Plan, sondern sprechen von einer Aufgabe.» / «Wir sprechen nicht von einem Märchen, sondern von einem Werk der Vernunft, der tapferen und tätigen Vernunft.» / Und schliesslich: «Die Schweiz im Ernstfall – wir sind uns gewohnt, nur den Krieg als Ernstfall zu bezeichnen. Ist es uns sonst mit unseren Ideen nicht ernst? Unsere Stadt soll beweisen, dass wir den Frieden ernstnehmen.»

Den Frieden ernstnehmen. Darauf kommt es an, ob es um eine Stadt von 10‘000 bis 15‘000 Einwohner*innen geht, oder um ein Dorf von ein paar hundert Menschen. Es gilt ernst.

Die Stadt ist nicht gebaut worden. Im Sinne von Frisch leben wir in unserem Land noch immer provisorisch.

Mitholz und Alps

Und nun Mitholz. Mitholz ist hinten im Kandertal gelegen, an der Bahnlinie und der Strasse nach Kandersteg und zur Verladestation durch den Lötschbergtunnel. Ein Durchfahrtsdorf, locker gebaut, ohne eigentliches Zentrum, Äcker, Wiesen, Ostbäume. Schroff ragt über dem Dorf eine kahle Fluh auf. Sie ist der Überrest eines riesigen Munitionsdepots der Armee, das am 19. Dezember 1947 explodierte, neun Opfer forderte und mit den Trümmern des einstürzenden Felsens weite Teile des Dorfes zerstörte.

Fluh mit Schuttkegel nach der Explosion. (Foto: Alpines Museum Bern)

Nach dem Aufräumen und dem Entsorgen nicht-explodierter Munition wurde die Anlage im Felsen wieder aufgebaut und zu unterschiedlichen Zwecken genutzt. 2018 informiert das VBS die Bevölkerung, dass unter dem Schuttkegel von damals immer noch 3‘500 Tonnen Munition mit hunderten Tonnen reinem Sprengstoff begraben sind. Um diese definitiv zu beseitigen, sollen die Bewohnerinnen und Bewohner ihr Dorf bis 2030 verlassen und erst ein Jahrzehnt später zurückkehren können.

Vor einer Woche hat der Bundesrat dem Parlament einen Verpflichtungskredit von 2,6 Milliarden Franken beantragt. Damit sollen Strasse und Bahn mit Galerien gesichert, das Gelände auch vor Lawinen und Hochwasser geschützt und die Munition entsorgt werden.

Die unmittelbare Last der 20-jährigen Arbeit (Frisch hätte gesagt «der Aufgabe») tragen die heute in Mitholz lebenden Menschen. Ab 2025 müssen sie ihre Häuser verlassen. Einige werden die Möglichkeit zur Rückkehr in neu gebaute Heime nicht erleben, andere orientieren sich gänzlich neu. In dieser harten, langen Zeit des Abschieds erodiert das Gemeinschaftsleben, nehmen zentripetale Kräfte überhand.

Dies zeigt das Alpine Museum in einer eindringlichen Ausstellung, die mit Menschen aus Mitholz erarbeitet worden ist und in der sie eine tragende, fragende Rolle spielen. Ihr Dorf, das in der gewordenen Art nicht überleben darf, wird in unerwarteter Weise lebendig. Im Museum.

Und jetzt?

Was ist Heimat? Meine Heimat sind zuerst Menschen, Beziehungen, menschliche Wärme – weniger Orte.

Doch jede und jeder empfindet dies individuell. Man kann Heimat verlieren, schaffen, umgestalten. Fix ist Heimat nur in ideologischer Betrachtung. Real verändert – gerade in einem Dorf von der Grösse von Mitholz – jeder Wegzug einer Person, jeder Tod, jede Geburt eine Gemeinschaft, umso mehr, je stärker wir sie als Heimat empfinden. Es ist der Wandel, der Dauer schafft, sozial, kulturell, politisch. Festhalten zu wollen, was lebendig bleiben können muss, ist widernatürlich. Das schmerzt – und das macht Mut für all das Neue, das zum Leben gehört.

Bis 30. Juni 2024. 

Magazin «Über Heimat nachdenken».

Grosses Begleit- und Vertiefungsprogramm: Alpines Museum Bern