«Es dürfte sich lohnen, diese Pionierin der Moderne kennenzulernen», wirbt lau die Berner Kulturagenda für den Besuch der neuen Ausstellung im Zentrum Paul Klee (ZPK). Gezeigt wird dort das Werk Gabriele Münters. In der grossen Retrospektive «Der Blaue Reiter» 1986/87 im Kunstmuseum Bern wurde Münter vorwiegend in Verbindung mit den beiden Leuchttürmen der Künstlervereinigung genannt, Wassily Kandinsky und Franz Marc. Jetzt erhält sie im ZPK die ungeteilte Aufmerksamkeit, die sie verdient.
Der Blaue Reiter
Gabriele Münter kommt 1877 in Berlin zur Welt, wird nach einer Reise mit der Schwester in die USA, wo ihre Eltern als Emigranten gelebt hatten, Kunstschülerin in Düsseldorf und München, u.a. bei Kandinsky. Mit ihm ging sie 1903 eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft ein. Nach jahrelangen Reisen liessen die beiden sich in München und im Dorf Murnau in Bayern nieder, wo Münter 1909 ein Haus kaufte. 1909 wurden Münter und Kandinsky Mitglieder der «neuen Künstlervereinigung München» zusammen u.a. mit Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin, später auch Franz Marc. 1911/12 traten sie aus und gestalteten die erste Ausstellung des «Blauen Reiters». Münter war an allen Ausstellungen der Gruppe beteiligt.
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Der «Blaue Reiter» verstand sich als anarchische Umwälzung. Wichtig waren der Gruppe die innere Notwendigkeit des künstlerischen Ausdrucks zwischen Abstraktion und Realistik. Wichtig war die Gleichberechtigung der europäischen und aussereuropäischen Kunst, der Hoch-, der Stammes- und volkstümlichen Kulturen, der Erwachsenen- und der Kinderkunst (das hiess übrigens Antirassismus und Diversität avant la lettre). Wichtig war schliesslich die Brüderlichkeit zwischen der bildenden Kunst, der Musik und der Literatur. Geschaffen hat der «Blaue Reiter» zwei Ausstellungen, die in Berlin und anderen deutschen Städten gezeigt wurden, und den Almanach, ein Gesamtkunstwerk in Buchform. Nicht erreicht hat er Anerkennung und Erfolg.
Die Künstlerin
Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in dem Franz Marc jung fiel, ging Münter mit Kandinsky in die Schweiz. 1916 trennten sie sich, Kandinsky kehrte nach Russland zurück. Münter lebte in Kopenhagen und Frankreich bevor sie ab 1930 bis zu ihrem Tod 1962 mit ihrem zweiten Partner Johannes Eichner in Murnau wohnte (das wegen der früheren Mitbewohner Kandinsky und Jawlensky so genannte «Russenhaus» ist heute ein kleines Museum). 1957 schenkte Gabriele Münter der Stadt München (Galerie im Lenbachhaus) ihre Werke von Kandinsky und anderen Künstlerinnen und Künstlern des «Blauen Reiters», die sie durch die Nazi-Zeit in ihrem Haus versteckt und damit gerettet hatte.
Gabriele Münter fand nach naturalistischen Anfängen – «Naturabmalen» nannte sie es später – ab 1908 die Fähigkeit zur Vereinfachung, zu deutlichen Kontrasten, zu klaren Farben. Auf diese Weise malte sie expressive Bildnisse etwa von Jawlensky, Paul Klee und Kandinsky. Mit feinem Bleistiftstrich deutete sie aber auch zurückhaltend Arbeitspferde an. Abstrakt sind die Aquarelle mit Tuschzeichnungen, die idyllische Berglandschaften zeigen, aber auch die Härte und das Tempo von Fabriken. Mit Öl auf Pappe malte Gabriele Münter 1911 ein Stilleben mit dem Heiligen Georg in dunklen Farben unter Verwendung volkskultureller und religiöser Motive. Sie erlernte auch die traditionelle Hinterglasmalerei. Ihre Technik ist breit, die Motive sind vielfältig, oft klingt Volkskunst an. Viele Motive entstammen der Voralpenlandschaft in Murnau.
Münter war eine sichere Zeichnerin mit knappem Strich. Sie fotografierte, seit ihre Schwester ihr auf der Amerikareise eine Kamera geschenkt hatte. In den späten Jahren wandte Münter sich der Druckgrafik zu.
Späte Anerkennung
Lange blieb Münter erfolglos, wurde künstlerisch kritisiert. Während der Nazi-Zeit in Deutschland wurde Münters Schaffen abgelehnt. Anerkennung setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein; unter anderem wurde an der Biennale von Venedig 1950 der «Blaue Reiter» gezeigt, an der Documenta in Kassel 1955 kam sie zum Zug. In den letzten Jahrzehnten wird Gabriele Münters künstlerische Eigenständigkeit verstanden und gewürdigt – ein Prozess wie etwa auch bei Lee Krasner, deren Schaffen neuerdings losgelöst von jenem ihres Mannes Jackson Pollock Wertschätzung erfährt.
«Es dürfte sich lohnen, diese Pionierin der Moderne kennenzulernen» – Nein, es lohnt sich unbedingt. Gabriele Münter war eine eigenständige Künstlerin. Gut, dass nun im ZPK das Licht auf ihr Werk fällt. Gut auch, dass noch ein paar Tage lang Frauen ihre Auftritte in Bern haben: Mit Münter im ZPK und Meret Oppenheim im Kunstmuseum ist Kunst von Frauen hier ein grosses Thema und – als Voraussetzung eigenständigen Schaffens – die Freiheit, die jede und jeder sich dafür nehmen muss.