Nützlich war, wer in den Tod ging

von Dorothe Freiburghaus 4. Juni 2013

Qin lässt mich nicht los. Qin, der erste chinesische Kaiser – eine Ausstellung die lockt Querverbindungen herzustellen und in den Jahrhunderten und Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte herumzuspringen. Eine Ausstellung reich an überraschenden Objekten, aber ihr grosses Potenzial für unsere Zeit und uns Betrachter müssen wir uns selbst ausdenken.

Wir steigen in der Ausstellung hinab, Schritt um Schritt in die Grube, wo die Terrakottakrieger warten. Ganz zuletzt führt sie in die eindrücklich dargestellte Massenproduktion der Terrakottakrieger, die für das Leben nach dem Tod des ersten chinesischen Kaisers und Himmelssohns Qin produziert werden. Vielleicht eine erste Stätte überhaupt, an der unzählige Menschen etwas in Serie fabrizieren, was China auch heute bestens kennt. Alles hand- und fussmade. Eine erste Equipe stampft den Lehm mit den Füssen weich. Die nächste formt Lehmplatten. Die dritte stellt daraus Beine und Arme her, der Leib wird aufgebaut. Man spürt förmlich das Tempo, mit dem in unzähligen Abteilungen gearbeitet wird. Serienherstellung vor mehr als 2000 Jahren! Für Kopf und Hände gibt es Schablonen. Jede Figur wird einzeln fertig gemacht. Mit flinken Händen ist je ein Arbeiter für die Rückenverzierung, die Vorderseite und das Gesicht zuständig, So wird aus der Masse gleicher Krieger eine Masse von ähnlichen. Nach dem Brand werden sie bunt bemalt. Tausende Krieger, Bogenschützen, Kavalleristen, Pferde, Viergespanne, Beamte, Artisten, Musiker werden in den vierzehn Jahren von Qins Kaisertum (221 – 207 v.Chr.) hergestellt. Noch lange ist nicht alles ausgegraben und gedeutet.

Namenlos sind die Krieger, namenlos die Schöpfer, oft Sträflinge – namenlos die Textilarbeiterinnen. Ihr Material: Lehm, Bronze, wenig Stein und für feinste Teilchen Jade. Massenproduktion – als hätte China nie etwas anderes gekannt als unerschöpfliche und sofort ersetzbare Mengen an Material und Menschenleben. Frauen wurden in der Grabanlage bisher nur als Skelette gefunden – die Frauen von Quin, die zum Zeitpunkt seines Todes nicht schwanger waren.

Mein Blick springt nach Europa zu Qins Zeit nach Griechenland. Oft meinen wir, wenn wir Griechenland sagen, nur Athen, den Stadtstaat, der damals eine grosse Seemacht darstellt. Es ist die grosse Zeit des Perikles, Sophokles und Phidias. Perikles lässt die von den persischen Kriegen verwüstete Akropolis mit den Tempeln wieder aufbauen. Phidias, der vielleicht berühmteste Bildhauer der Antike, gestaltet den Parthenontempel. All die Friese entstehen in Einzelanfertigung. Auch die Bildhauerarbeit des Athenatempels wird Phidias zugeschrieben.

Die meisten seiner Arbeiten werden später zerstört und existieren nur noch als Kopie nachfolgender Jahrhunderte. In Pergamon entsteht ein Zeustempel, üppig und gigantisch (um 180 v.Chr.). Viele unterschiedlich begabte Künstler arbeiten an seinen Friesen. Die Laokoongruppe, die drei rhodensischen Künstlern zugeschrieben wird, soll nach Plinius die bewundernswerteste Skulptur überhaupt sein.

Wir erkennen die Dargestellten, ob Gottheit, Persönlichkeit oder olympischer Athlet. Oft kennen wir die Künstler. Ihr Material: Kalkstein, Bronze und Marmor. Alle Arbeiten sind Einzelanfertigungen. Die Frauen sind in verschiedensten Formen vorhanden, als Göttinnen, Nymphen oder Tänzerinnen, bekleidet oder nackt.

Ein Sprung in unsere Region bringt uns in der Zeit von Qin zu den Kelten. Es gibt kaum Schriftliches von ihnen. Wir kennen sie durch die Römer und Hellenen, die sich mit ihnen auseinandersetzen. Sie leben als religiöses Volk in verschiedenen Stämmen. Ihre naturbezogenen Gottheiten werden zusehends von den römischen überlagert. Ihr Material: Stein und Bronze. Interessant zu wissen, dass die Frauen bei den Kelten ein hohes Ansehen geniessen und fast gleichberechtigt neben dem Mann stehen.

Zurück zu Qin. Er wird mit dreizehn Jahren König. Nach den Kriegen und dem Sieg über die sechs benachbarten, zerstrittenen Länder (230 – 221 v. Chr.) ruft er sich zum ersten chinesischen Kaiser aus und regiert als Sohn des Himmels allmächtig. In kürzester Zeit entsteht unter seiner Herrschaft ein funktionierendes, durchstrukturiertes, riesiges Kaiserreich mit äusserst strengen Gesetzen, das fast bis heute (bis zum Volksaufstand 1911) Bestand hatte. Quin ist offen für Fremdes, was brauchbar ist, wird übernommen. Berater auch aus gegnerischen Staaten haben die Möglichkeit in höchste Ämter aufzusteigen.

Qin führt seine Regentschaft mit einem autoritären Machtanspruch, der an totalitäre Systeme erinnert. Alle Macht liegt in seinen Händen. Nützliche Untertanen sind jene, die an Befehle und ans Gehorchen gewöhnt sind. Letztlich entscheidet er über Leben und Tod, das sicherste Instrument zur Machterhaltung. Strenge Gesetze machen aus dem Volk Spitzel. Elias Canetti, der sich intensiv mit «Masse und Macht» auseinandergesetzt hat, sagt: «Seine (autoritärer Führer) sichersten, man möchte sagen seine vollkommensten Untertanen sind die, die für ihn in den Tod gegangen sind» – ob im Krieg, in Schauprozessen oder in Vernichtungslagern.

Ganz anders Perikles. Er wird 461 – 429 v.Chr. Alleinherrscher von Athen. Er bringt, wie es heisst alle Qualitäten eines grossen Staatsmannes mit sich: Intelligenz, Rednergabe, Patriotismus, Uneigennützigkeit. Er wird jedes Jahr von der Versammlung der Bürger wieder gewählt. Hier werden auch Projekte und die öffentlichen Finanzen diskutiert. Bauwerke und Skulpturen dienen dem Gemeinwohl nicht der Darstellung eigener Macht. Unter ihm erlebt Athen eine Blütezeit.

Welten liegen zwischen der totalitären und der demokratischen Herrschaft von Qin und Perikles. Gerne würde man sagen zwischen China und Europa. Eng und sehr verwandt wird es aber, wenn wir von Qins Alleinherrschaft ins 20.Jahrhundert wechseln. Auch hier gibt es totalitäre Systeme.

Wir begegnen dem China Mao Zedongs mit seinen Kampagnen (1966 – 1976), mit der Kulturrevolution, die alle früheren Werte zerstört. Sein geplanter grosser Sprung nach vorn (1958 – 1961), einer seiner Fünfjahrespläne, wird mit 20 – 40 Millionen Hungertoten vorzeitig abgebrochen. Während seiner Herrschaft (ab 1949) starben mehr als 70 Millionen Menschen an den Folgen politischer Kampagnen, diktatorischer Machtausübung und verfehlter Wirtschaftspolitik. Unter Maos Führung wurde China zur atomaren Grossmacht (1964 Zündung der ersten Bombe). Verdrängung ursprünglicher Bevölkerung und Massenumsiedlungen finden auch heute statt. Denken wir an Tibet und die Uiguren, eine muslimische Volksgruppe mit ihrer Freiheitskämpferin Rebiya Kadeer, die nach Verfolgung und Einzelhaft heute aus den USA für die Menschenrechte in China kämpft.

Stalin, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (1922 – 1952), Oberster Befehlshaber der Roten Armee (1941 – 1945), liess während seiner Diktatur (1927 – 1953) durch den Gulag – ein umfassendes Repressionssystem – vermeintliche und tatsächliche Gegner verurteilen oder hinrichten und ganze Volksgruppen in Zwangsarbeitslager deportieren. Die Kollektivierung der Landwirtschaft löste Hungersnöte aus. Millionen von Menschen verhungerten. Unter seiner Führung, einer totalitären Diktatur, wurde die Sowjetunion in kürzester Zeit vom rückständigen Agrarland zu einer industrialisierten, atomaren Supermacht.

Im national-sozialistischen Reich Hitlers (1933 – 1945) kommt zum totalitären Regime der Genozid dazu. Er geht weiter als Repressionen, Umsiedlung und Vertreibung. Absichtlich und systematisch wird eine ethnische, eine religiöse Gruppe, werden das Volk der Juden und die nicht angepassten Zigeuner verfolgt und gemordet. Adolf Eichmann kommt dabei als Leiter für die Organisation der Deportation und Vernichtung der Juden eine zentrale Stellung zu. Bis heute werden die Spuren untergetauchter Täter verfolgt. Eichmann wurde erst 1960 in Argentinien gefasst, für seine Taten zur Rechenschaft gezogen und mit dem Urteil Tod durch Strang 1962 hingerichtet.

All diesen totalitären Staaten stehen Führer vor, an deren Befehle geglaubt und denen gehorcht wird – freiwillig oder gezwungenermassen. Unterstützt werden sie durch ein Spitzelwesen, das die Völker vergiftet.

Der Film «Hannah Arendt», der kürzlich in Bern zu sehen war, setzt sich mit dieser gefährlichen Haltung des gehorchenden Bürgers an Hand des Prozesses von Eichmann auseinander. Eichmann sieht sich nur als Befehl-gehorchendes und ausführendes, kleines Teilchen – wie es deren viele gibt – in einem Befehl von Hitler. Hannah Arendt kommt im Prozess zum Schluss, dass Eichmann nicht ein Monster ist, vielmehr ein Beamter, der nicht denkt. Ein Beamter, den die Folgen seines Handelns nicht interessieren, der sich für all die Juden, die er in den Tod schickt nicht verantwortlich fühlt. «Meine Treue zum Führer ist meine Ehre», sagt er. Er hat die eigene Stellungnahme, die Fähigkeit zu denken aufgegeben, was einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich kommt.

Das Böse und Dämonische ist da, wo nichts ist, wo niemand Verantwortung übernimmt, niemand selber denkt und sich engagiert. Auch der Judenrat, der viel wusste, hat nicht entsprechend reagiert. Er verhielt sich zwischen Widerstand und Mitmachen. Feststellungen, die Hannah Arendt, selbst Jüdin, von der jüdischen Seite her unglaublich viel Unverständnis bis zu Morddrohungen einbringen und schliesslich zu einer grandiosen und klärenden Rede vor ihren Studenten führt. Dafür, dass das nie wieder passiert, dafür kämpft sie. Denken ist unsere Möglichkeit gegen eine schleichende, neue Katastrophe.