Vor 603 Jahren ist der Grundstein des Berner Münsters gelegt worden; erst seit 1893 steht es vollständig mit Turmspitze. Doch längst befindet es sich nicht mehr im Originalzustand. Denn ständig wurden am Bauwerk Teile ausgewechselt, hinzugefügt, verbessert. Das lange Leben des spätmittelalterlichen Wahrzeichens der Stadt verdankt sich der beharrlichen Unterhaltsarbeit der Münsterbauhütte mit heute einem Dutzend Mitarbeitenden unter der Leitung von Münsterbaumeisterin Annette Loeffel.
Die Vorgehensweise der Bauhütte ändert sich immer wieder, passt sich technischen, naturwissenschaftlichen, architektonischen Erkenntnissen an und ermöglicht dabei ebenso neue Einblicke in die frühere Art zu bauen. Bern ist dabei Avantgarde und bestimmt den state of the art der Dom-Erhaltung mit. Obwohl unser Münster lediglich ein kleineres ist in Europa, amtet Annette Loeffel, kein Zufall, als Vorsitzende der Europäischen Vereinigung der Dom- und Münsterbaumeister.
Immer wieder neu
An einer Medienkonferenz verhehlt Christophe v. Werdt, Präsident der Berner Münster-Stiftung, seinen Stolz über die wissenschaftsorientierten innovativen Konservierungsleistungen nicht. Primärer Auftrag der Baupflege im historischen Umfeld ist es für Münsterbaumeisterin Annette Loeffel, das Bauwerk als Quelle für künftige Betrachter*innen zu erhalten.
Ein Beispiel dafür ist, der um das Jahr 2000 erfolgte Paradigmenwechsel: «Weg vom Steinaustausch hin zu konservierenden Methoden» , so Loeffel. Konkret: War ein Stein des Mauerwerks defekt, wurde früher der ganze Stein neu gehauen und an die Stelle des alten eingefügt. Heute repariert man Fehlstellen mit selbst hergestelltem mineralischem Mörtel.
Aus der Kraft heischenden Arbeit der Steinmetze ist eine feinfühlige Arbeit plastischer Natur geworden. Dies hat die Tätigkeit und damit das Selbstverständnis der verantwortlichen Bauleute erheblich verändert. Mit der Folge, dass künftig nicht mehr ganze Fassaden des Münsters neu sind, sondern lediglich Einzelschäden geflickt werden.
Im Inneren des Gebäudes sind zahlreiche Installationen montiert, versteckt eingefügt, die man in der Regel nicht wahrnimmt: elektrische Installationen, Motoren, Generatoren, Warmluftgebläse, Heizungsrohre, Steigleitungen für Wasser. Teilweise sind sie in die Jahre gekommen, entsprechen ohne Erneuerung nicht mehr den Vorschriften, bilden Gefahrenherde für Funken und Feuer.
Der Brand von Notre-Dame de Paris
Ein Funke aus einer solchen Installation im Dachstuhl hat am 15. April 2019 wohl zum Brand der Kathedrale Notre-Dame de Paris (gegründet 1163) geführt und grosse Schäden verursacht. Die Katastrophe im Herzen der französischen Kapitale führte dazu, dass Fachleute jeglicher Disziplinen, die Hauptkathedrale Frankreichs in allen Teilen untersucht haben, um sie originalgetreu zu restaurieren. Die zum Brandschutz gewonnenen Erkenntnisse wurden auf die 85 weiteren Kathedralen unseres Nachbarlandes angewandt. Notre-Dame soll Ende 2024 wieder eröffnet werden.
Régis Martin, Architecte en chef des monuments historiques en France, berichtete an der Medienkonferenz über die in Frankreich unternommenen Massnahmen. Es geht einerseits um eine «défense passive»: Bauliche Vorkehren, um die Ausbreitung von Feuer zu unterbrechen oder wertvolle Bauteile vor Feuer zu sichern. Die «défense active» andererseits besteht in der Vorbereitung des Betriebs und der Feuerwehr auf den Krisenfall: Wo braucht es Wasseranschlüsse, wo soll gespritzt werden, welche Teile sind ohne Wasser zu schützen, wie gelangt die Feuerwehr zum Bau usw.
Von den Erfahrungen und Erkenntnissen in Frankreich hat nun auch Bern profitieren können.
Für Martin wichtig ist der «facteur humain»: die Aus- und Weiterbildung der verantwortlichen Personen, ihre Kompetenz und ihre regelmässige Information über alle Neuerungen. Fazit: Bisher stand in Frankreich der Schutz von Personen im Brandfall im Vordergrund, neu kommt die «sauvegarde des monuments» hinzu. Dies erfordert für jede Kathedrale einen Plan, wie besonders im Innern Kunstwerke und andere wertvolle Teile zu schützen und zu retten sind.
Und Bern?
An einem umfassenden Sicherheitskonzept arbeitet man am Berner Münster seit bald 25 Jahren. Von den Erfahrungen und Erkenntnissen in Frankreich hat nun auch Bern profitieren können. Es gibt indes Punkte, wo Bern Paris oder der Gebäudeversicherung nicht folgt. Zum Beispiel bei der Stopfung der hunderten von Lüftungslöchern in den Gewölben, um dem Feuer entgegenzuwirken. Es gebe in Bern derart viele Durchbrüche, dass dies unverhältnismässig wäre und wegen der Gefahr von Schimmelbildung sogar kontraproduktiv sein könnte.
Für Felix Gerber, Sigrist und Betriebsleiter des Münsters, ist die Schulung in Gebäudekenntnis und Brandbekämpfung zentral. Immer wieder wechseln eigene Mitarbeitende. Er führt regelmässig auch Mannschaft und Kader der Berufsfeuerwehr Bern durch alle Räume des Münsters, damit sie den Bau gut kennen.
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Für das Münster besteht ein detailliertes Sicherheitskonzept mit klaren Zuständigkeiten. Im Normalfall bestimmt die Betriebsleitung; für den Notfall bestehen Checklisten; im Krisenfall wirken Kirchenbetrieb und Münsterbauhütte bis die Blaulichtorganisationen übernehmen. Doch auch dann unterstützen Leute der Bauhütte jene der Feuerwehr, damit sich diese in ihrer schweren Montur und bei Rauch und Feuer möglichst sicher im Münster bewegen können. Gelegentliche Fehlalarme, da sind sich Annette Loeffel und Felix Gerber einig, helfen mit, das Konzept und die technischen Systeme zu testen und je nachdem anzupassen.
Der Glockenstuhl und die Glocken
Hoch über dem Boden stehen die beiden Glockenstuben mit den aus Eichenbalken gezimmerten Glockenstühlen des Münsters. Neun Glocken hingen ursprünglich darin, jede unterschiedlich gestimmt; 7 schwingen heute noch, 2 sind nicht mehr aufgehängt. Unterschiedliche Giesser haben sie in insgesamt sieben Jahrhunderten geschaffen.
Der Bestand ist laut Glockenspezialist Matthias Walter nach Grösse und Qualität einer der wertvollsten in Europa. Diesen gelte es unbedingt vor Feuer zu schützen – wie es vor ein paar Jahren in Herzogenbuchsee ausgebrochen ist – , denn die Holzkonstruktion könnte kaum wieder hergestellt werden. Und die historischen Glocken schon gar nicht.
Die Grosse Glocke stammt aus dem Jahr 1611. Sie wiegt 9,5 Tonnen und hat einen Durchmesser von 247 Zentimeter. Eine Grosse Glocke konnte erstmals 1508 aufgehängt, musste jedoch bereits 1516 ersetzt werden. Auch ihre Nachfolgerin überdauerte nur ein paar Jahrzehnte bis 1572. Doch erst 1611 erfolgte der Aufzug der noch heute hängenden Glocke. Bis 1944 sorgten starke Männer für das Geläut, ein Team von 19 Personen. Seit einem tödlichen Unfall bringen Elektromotoren die Glocken in Schwingung, je einer für die kleineren, zwei Motoren für die Grosse Glocke.
Intonieren bedeutet, die Schwingung der Glocken und die Bewegung der Klöppel so abzustimmen, dass der Klang nicht hart ertönt, sondern musikalisch weich.
In Folge der Erkenntnisse aus Paris sind die Motoren ersetzt und die Verkabelungen überprüft bzw. erneuert worden. Auch die Glockensteuerung ist neu. 11 Tage blieben die Glocken stumm. Am 1. März begannen sie erneut zu läuten. Es dauert indes noch eine Weile, bis sie sorgfältig intoniert sein werden.
Intonieren bedeutet, die Schwingung der Glocken und die Bewegung der Klöppel so abzustimmen, dass der Klang nicht hart ertönt, sondern musikalisch weich. Die Vorstellung ist, dass wir die Glocken künftig etwa so hören werden, wie wenn sie anstatt von Motoren von Hand geläutet würden. Um dies zu erreichen, helfen Messungen der Fachhochschule Kempten im Allgäu, dem europäischen Kompetenzzentrum für Campanologie, der Wissenschaft der Glockenkunde.
Vergangenes für die Zukunft sichern
Wie vor 600 Jahren gebaut worden ist, wäre heute wohl kaum bewilligungsfähig. Das Berner Münster ist zwar versichert, es ist allerdings unmöglich, den Bau in allen Teilen mit den heutigen Normen und Kriterien in Übereinstimmung zu bringen. Das ist in Paris nicht anders. Eine Kathedrale ist ein Gesamtkunstwerk aus vergangener Zeit, gebunden an die Technik, Kultur und Religion seiner Entstehung in langer Zeit.
Und doch soll, ja muss das Bauwerk immer wieder sorgfältig gesichert und verbessert werden. Nur so bleibt der Zeuge der Vergangenheit ein Monument für uns Heutige und Künftige, ein Sinnbild gerade für das, was wir in unserer Zeit nicht zu schaffen imstande sind. Die Leute, die sich für diese Aufgabe engagieren, verdienen unseren Dank.