Aus dem Orchestergraben des Stadttheaters steigt laut das Stimmen der Instrumente. Ein Horn blitzt auf, ein Cellist greift konzentriert in die Saiten, spielt Töne die im Getöse untergehen. Im Zuschauerraum nur noch Geflüster, das Licht geht aus. Stille – und jetzt die ersten Töne von Igor Strawinskys Agon.
Die Bühne: ein schwarzer Raum mit grauem Boden. Von vorne nach hinten ein Weg aus schwarzen Dreiecken und Trapezoiden, Elementen eines Tangrams. Er wird dreidimensional, hebt sich aus den tanzenden Figuren empor, wird zur Decke. Auf der Bühne bleiben Schattenelemente. In und auf diesen strengen Formen bewegen sich die Tänzer in ihren schwarzen, knappen Kostümen. Tanzen mit viel Präzision geometrische Formen über- und ineinander verwoben, einzeln, als Paar und als Gruppe. Zeichnen mit ihren schmalen Körpern, Armen und Beinen, in schnellen, ausdrucksstarken Bewegungen, grafische Gebilde in den Raum. Geometrische Abstraktion, denke ich, Konstruktivismus und Kasimir Malevitsch gehen mir durch den Kopf: die Absage an die bisherige, historisch gewachsene Formen- und Bildersprache der Malerei und der Kultur als Ganzes. Noch einmal von vorne beginnen bei den Urformen, den grundlegenden geometrischen Formen und gleichmässigen Farbflächen. Ob Malevitsch und Strawinsky sich gekannt haben? Und was sich der Choreograf, Andonis Foniadakis, die Bühnengestalterin Stefanie Liniger, der Lichtdesigner und die Kostümverantwortliche beim Entwickeln des Tanzes gedacht haben?
Jetzt spielen sich im Sturm des Orchesters einzelne Instrumente in einer Melodie frei. Auf der Bühne tanzen einzelne Tänzer ihren individuellen Tanz, ganz der Musik entsprechend. Heftige Bewegungen, äusserste Präzision. Mit unglaublicher Leichtigkeit tanzen die Tänzerinnen und Tänzer unermüdlich immer neue abstrakte Formen auf die Bühne.
Im ersten Teil habe ich die malerisch farbigen Leibchen der Tänzerinnen und Tänzer in ihrem nur scheinbar wahllosen Tanz als Augenweide empfunden. Als ob die amorphen Farbflecke, in immer neuem Übertanzen der Bühne, bei dem Entstehen eines tachistischen Bildes mitwirkten. Der zweite Teil jetzt überrascht mit seinen strengen Formen, seiner knappen Farbgebung und seinen hohen Tempi, die uns Zuschauer in totale Spannung versetzen.
Dann Walking Mad, der Boléro von Maurice Ravel. Ein Paartanz in grauem Röcklein und grauem Gewand vor einer langen, verwitterten, grauen Holzwand. Ein Motiv, das mich sofort an die Bilder und Skulpturen des Bündners Robert Indermaur erinnert. Auch an Giacometti mit seinen feingliedrigen grauen Figuren. Ein Tanz kurz und von grosser Leichtigkeit – bis Gestalten mit roten Zwergenkappen störend eindringen und das Paar auseinanderreissen. Dazu die hämmernden Töne der Trommeln, Boléro eben, der spanische Tanz im Dreiviertel Takt. Plötzlich schweigt die Musik. Gebannt sehen wir auf die Bühne. Ein Weben zwischen Tanz, Akrobatik, Theater, Musik, Architektur, Malerei, Licht, Schatten und Erzählung ohne Worte hebt an. Genau das ist es, was mich immer wieder zum Tanz hinzieht: die Summe der verschiedenen Künste, die alle in einander greifend, sich unterstützend das Leben selbst benennen. Ihm ein Gesicht geben.
Die Wand wird in einen Winkel gefahren. Ein wundersames Schattenspiel beginnt. Die Geschichte eines Paars – sie im rotem Kleid – erzählt vom sich-Finden und wieder Verlieren, von Zartheiten und abruptem auseinander-Brechen. Ein Springen, ja Flüchten über die Wand. Schwärze. Ein Lichtkegel flammt auf, darin ein verzweifelter Tanz. Wann hat die Musik wieder eingesetzt? Da sind wieder die Bässe – damals schon! 1928 hat Maurice Ravel für die Tänzerin Ida Rubinstein den Tanz komponiert. Seit den achtziger Jahren kennen wir das alles durchdringende Hämmern der Bässe von der Technomusik.
Einsam und verloren wieder die graue Tänzerin. Wie Sterntaler steht sie da, fällt hin, fällt ihm in die Arme. Er geht weg. Sie – allein. Im Orchester zerrinnt einsam die Melodie.
Noch einmal ist diese Aufführung zu sehen. Sie ist wärmstens empfohlen, und wird Sie nicht enttäuschen.