«Niemand darf wegschauen!»

von Rita Jost 25. Oktober 2022

Seit Wochen gehen im Iran Menschen auf die Strasse und protestieren gegen das Regime. Für eine Iranerin in Bern sind es quälende Tage.

Pardis* ist Studentin und seit Tagen aufgewühlt. Es ist ein Leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Ohnmacht, Wut und Stolz. Stolz auf die mutigen jungen Menschen in Iran, die nach dem Tod einer unschuldigen Frau täglich auf der Strasse protestieren und ihr Leben riskieren. Stolz vor allem auf die Frauen, die unter Lebensgefahr ihre Kopftücher verbrennen.

In einem Berner Café erinnert sich Pardis an ihre Jugend in Iran: An die Schulzeit unter dem strengen Diktat der Sittenpolizei, an die Bespitzelung durch die Lehrer*innen, an die Unsicherheit, an das «Leben in zwei Welten». In der Familie wurden verbotene westliche Bücher gelesen, Wein getrunken, das Regime offen kritisiert – sobald man das Haus verliess, musste man sich anpassen, überall lauerte Gefahr.

In Iran werden Frauen verhaftet, gefoltert und vergewaltigt, aus einem einzigen Grund: weil sie Frauen sind.

Seit einigen Jahren lebt sie mit ihrem Schweizer Mann in der Region Bern. Aus Rücksicht auf ihre Verwandtschaft will sie ihren echten Namen hier nicht nennen. Aber sie setzt sich mit ihren Mitteln für die Aufständischen in ihrer Heimat ein. Sie sorgt dafür, dass Nachrichten, die sie täglich aus Iran bekommt, an westliche Medien gelangen. Es sind verstörende Nachrichten.

«In Iran werden Frauen verhaftet, gefoltert und vergewaltigt, aus einem einzigen Grund: weil sie Frauen sind.» Das Entsetzen ist der jungen Frau ins Gesicht geschrieben. Sie hat Tränen in den Augen. Vor Wochenfrist hat sie auf dem Bundesplatz demonstriert. Am Tag, als bekannt wurde, dass es im berüchtigten Teheraner Gefängnis Evin brennt, und dass dort mehrere Gefangene gestorben sind. «Dieses Feuer wurde absichtlich gelegt», ist Pardis überzeugt, «es kommt der Regierung gelegen, wenn die dort Inhaftierten sterben.»

Demo in Solidarität mit den Protestierenden in Iran vor dem Bundeshaus (Foto: zvg).

Pardis schüttelt verzweifelt den Kopf und erzählt von der Brutalität, mit der in ihrer Heimat Menschen gefoltert werden. «Es ist unglaublich, aber die Mullahs erlauben es dem Staat, unschuldige Mädchen zu vergewaltigen. Jungfrauen kommen nach islamischem Glauben in den Himmel. Und das wollen die Mullahs natürlich nicht. Darum.»

Pardis hat täglich Kontakt mit Verwandten und Freundinnen in Iran. «Über Social Media, aber wir müssen sehr, sehr vorsichtig sein, denn der Staat kann alles abhören.» Und doch: Die sozialen Medien seien ein Segen für die Protestierenden. «Wenige Minuten nach dem Brandausbruch im Evin-Gefängnis haben wir die Meldung an die Redaktionen von CNN und BBC geschickt. Ohne diese Aktion hätte der Westen nichts von diesem Brand gehört.»

Wie ist es, in einem Land aufzuwachsen, das seine Bürger*innen auf Schritt und Tritt überwacht? «Wir mussten immer extrem vorsichtig sein. Mein Vater hat mir das von klein auf eingetrichtert.» Nicht auffallen war überlebenswichtig, denn die Lehrer hatten die Pflicht, alles, was der Regierung nicht genehm war, an den Revolutionsrat zu melden. Sie habe deshalb nie mit Kolleginnen über Politik gesprochen. Und am Jahrestag der Revolution brav mitgemacht beim Plakate-Basteln für Revolutionsführer Ruhollah Chomeini. Alles andere wäre zu riskant gewesen. Aber Pardis wusste genau, dass sie angelogen wurde. In den Schulbüchern, von den Lehrern, von der Regierung.

Die Familie lebte dann einige Jahre im Ausland, Pardis kehrte aber als Erwachsene wieder in den Iran zurück. Und erlebte, wie ihre Landsleute sich duckten. Das Kopftuch war Pflicht. Wer sich widersetzte, konnte verhaftet werden. Sie erlebte aber auch, dass es unter der Oberfläche, vor allem bei der Jugend, brodelte. Die jungen Menschen sahen im Internet, was ihre Altersgenossen im Westen durften, wie sie sich kleideten. Die jungen Iraner*innen hörten die gleiche Musik wie ihre Altersgenoss*innen in Europa und Amerika, aber sie hatten keine Rechte. Sie kannten den Reichtum ihres Landes, wussten um seine Geschichte, seine reiche Kultur, aber auch um die Lügen, die ständig im Namen der Religion verbreitet wurden. Und sie mussten sich ducken unter einem Regime von religiösen Sittenwächtern.

Vor allem die Frauen litten. Sie hatten keine Rechte. Radfahren war ihnen verboten, Fussballspielen sowieso. Ohne die Unterschrift des Vaters oder des Bruders ging gar nichts. «Die Mullahs haben versucht, mit Lügen und Unterdrückung einen islamischen Staat aufzubauen, aber sie haben nicht mit dem Stolz und dem Kulturbewusstsein der Iraner und Iranerinnen gerechnet», ist Pardis überzeugt. Darin sieht sie die Quelle des Widerstandgeistes, der sich jetzt auf den Strasse entlädt. Das macht sie auch verhalten optimistisch.

Wem es ernst ist mit Menschenrechten, muss sich mit den Protestierenden offen solidarisieren.

Obwohl: An einen baldigen Rücktritt des Regimes glaubt sie nicht. Da sei zu viel Geld im Spiel. Und – traurig aber wahr – habe der Westen kein Interesse an einem Machtwechsel im grössten Land des Mittleren Ostens. Woher nimmt sie trotzdem ihren Optimismus? Aus der Wut und dem Mut der Bürger*innen: «Was sie aber jetzt unbedingt brauchen, ist Solidarität, Unterstützung und Mitgefühl aus dem Westen. Die Welt darf nicht wegschauen. Wem es ernst ist mit Menschenrechten, muss sich mit den Protestierenden offen solidarisieren.»

«Frau, Leben, Freiheit». Transparent in Solidarität mit den Protesten in Iran (Foto: zvg).

Darum setzt sich Pardis täglich dafür ein, dass Nachrichten aus dem Iran in die Medien gelangen. Und dass die Proteste nicht aus den Schlagzeilen verschwinden. Von der Schweizer Regierung erwartet sie mehr Engagement. Es gehe nicht nur um Frauenrechte, es gehe auch um Kinderrechte, um Menschenrechte ganz generell. Aber sie hat auch Forderungen an die Feministinnen hierzulande. Nur gerade ein einziges Transparent hat sie an der Demo Schweizer Feminist*innen vor dem Bundeshaus gesehen. Zu wenig. «Solange Frauen in Iran gefoltert, vergewaltigt und getötet werden, dürfen Frauen auf der ganzen Welt nicht untätig zuschauen!»

*Name geändert