Neuhaus: Ist’s die Seele, der Körper oder das Milieu?

von Fredi Lerch 3. September 2022

Am Beispiel der Kinderbeobachtungsstation Neuhaus hat der Historiker und Journalist Urs Hafner ein Buch darüber geschrieben, wie sich zwischen 1937 und 1985 der psychiatrische Blick auf Kinder und Jugendliche verändert hat.

Am liebsten haben die Erwachsenen, man versteht’s, liebe Kinder. Liebe Kinder sind unauffällig und folgsam. Sind Kinder hartnäckig anders, muss man genauer hinschauen. Stellt man fest, dass sie lügen, stehlen, bettnässen, stottern oder gar geistesgestört, anorektisch oder suizidal sind, dann müssen Fachleute genauer hinschauen. Deshalb eröffnete man in Bern 1937 – direkt neben der Irren-, Heil- und Pflegeanstalt Waldau – die Kinderbeobachtungsstation Neuhaus.

Der psychoanalytische Blick

Mit der Eröffnung des Neuhauses beginnt Urs Hafners Geschichte der Kinderpsychiatrie, die, wie er auf den ersten Seiten feststellt, «keine des Fortschritts» sei. Im Zentrum steht zuerst Arnold Weber (1894-1976), der die Institution bis 1960 leitet. Weber ist als Psychiater geprägt von Siegmund Freuds Psychoanalyse.

Er nähert sich den ihm als nicht normal zugewiesenen Kindern und Jugendlichen auf dem «Königsweg der Träume», diagnostiziert ihre psychischen Auffälligkeiten oft als «Neurosen», sieht deren Ursachen oft im Unterschichts-«Milieu» und versucht, mit Gesprächstherapien zu behandeln.

Die Geschichte der Kinderpsychiatrie ist keine des Fortschritts.

Auch wenn er seine Patientinnen und Patienten nach dem Aufenthalt im Neuhaus in Heimen oder Pflegefamilien platziert, ist er doch der Meinung, die Gesellschaft müsse auf das Kind zugehen, statt es zu separieren. 1952 schreibt er in einem Aufsatz, man dürfe «Psychopathie nie aus körperlichen Merkmalen erschliessen». Arnold Webers Psychiater-Blick war zweifellos geisteswissenschaftlich geprägt.

Der biologistische Blick

1961 wird Weber vom Psychiater Walter Züblin (1919-1990) abgelöst. Züblin hat einen anderen Blick auf die zugewiesenen Kinder und Jugendlichen: einen medizinisch-naturwissenschaftlich geprägten. Für ihn hängen die Probleme dieser jungen Menschen in erster Linie mit «hirnorganischen Störungen» zusammen. Zwar bietet er ihnen vielfältige Therapien und Spielmöglichkeiten, aber vor allem anderen ist der neue Leiter fasziniert von den Psychopharmaka, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts das psychiatrische Interesse zunehmend auf körperliche Ursachen für die psychischen Krankheiten gelenkt haben.

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Man wusste nun: Nichts reduziert Verhaltensauffälligkeiten schneller als chemische Substanzen. Zudem ist Züblin der Meinung, wenn die verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen erst zu einem «Häufchen Elend» geworden wären, müsse einerseits die Umgebung vor ihnen nicht mehr geschützt werden, und der Zustand schaffe andererseits im Umfeld Empathie und Mitleid: die ideale Voraussetzung für den therapeutischen Zugang. Eine der vielen Medikamente, die Züblin im Neuhaus einsetzen lässt, ist das erste Neuroleptikum Chlorpromazin.

Man wusste nun: Nichts reduziert Verhaltensauffälligkeiten schneller als chemische Substanzen.

Den Perspektivenwandel von Webers psychoanalytischem zu Züblins hirnorganischem Fokus hat, so Urs Hafner, vieles verändert: «Die zunehmende Biologisierung der Psychiatrie könnte dazu geführt haben, dass der therapeutische Optimismus, von dem Weber getrieben war, verschwand.» Die von Weber oft diagnostizierte Neurose war aus dessen Sicht eine Krankheit, die mit Therapien, ohne Medikamente heilbar war.

Die von Züblin später oft gefundenen Diagnosen des Psycho-Organischen Syndroms (POS) oder der Epilepsie sind dagegen verbunden mit der «Vorstellung eines Schadens, der irreparabel und keiner Gesprächstherapie zugänglich» sei. Hafner resümiert: «Es ist nicht anzunehmen, dass sich psychische Krankheiten innert weniger Jahrzehnte fundamental änderten. Vielmehr veränderte sich der ärztliche Blick.»

Macht der Fortschritt die Kinder krank?

So sehr sich der diagnostische und der therapeutische Zugang der beiden ersten Neuhaus-Leiter unterschieden, so sehr trafen sich Weber und Züblin in der kulturkonservativen Zivilisationskritik. Das, was von der Mehrheit der Gesellschaft als «Fortschritt» begrüsst wurde, stellten sie beide als krankmachend für Kinder in Frage: Der «American way of life», der zunehmend materialistische, konsumorientierte Lebenswandel, die vermehrte Berufstätigkeit der Mütter, die Propagierung der antiautoritären Erziehung führe nicht nur zu mehr Wohlstand für die unteren gesellschaftlichen Schichten: dieses ganze «Mietskasernenzeitalter» verhindere vielmehr Heimatgefühl und familiäres Miteinander, fördere das «Herumzigeunern», Jugendkriminalität und Verwahrlosung und verhindere den «Vaterlandsbezug».

Psychiatrisierung der Gesellschaft?

Nach Weber und Züblin, man versteht’s, musste die Kinderpsychiatrie ihren Blick wieder neu fokussieren, um den Anschluss an die gesellschaftliche Entwicklung nicht zu verlieren. Sie begann, das sozial Auffällige an den Kindern und Jugendlichen nicht mehr nur in deren Seelen oder in körperlichen Defekten zu suchen, sondern auch im «Familiensystem». Nun ging es vermehrt darum, das enge soziale Umfeld miteinzubeziehen, die Eltern, im Interesse der Kinder, zu besseren Eltern zu machen.

Wenn sich aber das Anormale nicht mehr an Seele oder Körper der Patientinnen und Patienten festmachen lässt, geht es dann nicht zunehmend um «die Psychiatrisierung der Gesellschaft»? Und wenn es so wäre: In was für eine Welt wachsen dann die jungen Menschen hinein? Urs Hafner hat mit vielen Beispielen aus Krankenakten ein lebendiges Buch geschrieben über die Entwicklungen von Forschungs- und Arbeitsweise einer kinderpsychiatrischen Institution am Rand von Bern. Und er ist dabei auf Fragen gestossen, die weit über Bern hinaus zum Nachdenken anregen.