Der neue Münsterführer wird im Achtecksaal des Turms vorgestellt, 80 Meter über dem gepflasterten Platz, Glocken läuten vom unteren Boden herauf, kurz kreist ein Helikopter wie im Schlussbild des «Winterstadt»-Films von Bernhard Giger und sofort erwacht der damit verbundene Song «Campari Soda» von Dominique Grandjean. Man hört von der jahrhundertelangen Bauerei des Münsters, von der Grundsteinlegung 1421 bis zur Reformation (1527), von 1571-1602 und weiter 1643-1796. Erneuter Unterbruch bis 1889, schliesslich Fertigstellung der Turmspitze 1893. Ein Baumeister folgt dem anderen: Nach Matthäus Ensinger sind es 22, seit 2019 ist Annette Loeffel die erste Münster-Architektin.
Komplexe Bauerei
Das fordert die Vorstellungskraft heraus. Ich vergleiche die komplexe Bauerei über Jahrhunderte vielleicht unpassenderweise mit der nächstgelegenen Grossbaustelle in der Stadt, der «Zukunft Bahnhof Bern». Dort werden bei laufendem Betrieb – sozusagen in einer Operation am offenen Herzen – technische, handwerkliche und planerische Höchstleistungen vollbracht. Es ist ein profaner Kathedralbau in der Erde. Nach seiner Vollendung werden die Züge vielleicht reibungsloser rollen, die Passagiere mehr Platz haben – aber nie wird ein honigfarbener Hochbau das Himmelsblau noch blauer erscheinen lassen.
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Warum ein neuer Führer, der jenen von 1993 nicht ergänzt und erweitert, sondern von Grund auf erneuert? Seit den 1960er Jahren sei das Wissen vom Münster enorm gewachsen. Die von der Münsterbauhütte und der Münsterbauleitung dokumentierten Arbeiten und Erfahrungen schufen neue Erkenntnisse. Ebenso hat die Dendrochronologie (die Methode, das Alter von Holz genau zu bestimmen) der Dachstühle neue Datierungen ermöglicht.
Einst farbiger als heute
Es ging also darum, aus dem Mehr an Wissen der Spezialist*innen für die Bevölkerung einen neuen Zugang zum Münster zu öffnen. Ein Beispiel: Die heute «fast einheitliche Steinsichtigkeit des verwendeten Molassegesteins» (Jürg Schweizer im Grundlagenband «Das Berner Münster», 2019) war früher namentlich in den privat gestifteten Seitenkapellen von deutlichen Akzenten in kräftigen Farben durchsetzt, die spätestens bei der Vereinheitlichung im Barock (1673-78) übertüncht worden sind. Neue Erkenntnisse zur früheren Farbigkeit des Münsters zeigt auch die eben fertiggestellte Restaurierung des nördlichen Westportals. Ob die Buntheit einst so leuchtend war wie im antiken Parthenon zu Athen? Zumindest der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Das Glossar ist so knapp formuliert, dass es eher Rätsel aufgibt.
Der Führer ist ein schlichtes Büchlein, recht lieblos in den Raster der GSK gepresst, 80 Seiten mit zahlreichen neuen Fotographien von Beat Schweizer, aber auch vielen historischen Aufnahmen; eine gestalterische Hand fehlt. Die Texte sind wohltuend sachlich geschrieben und knapp gehalten. In vier Kapitel gegliedert – Einführung, Baugeschichte, Rundgang aussen und Rundgang innen – , fügen sich die Elemente der Autorinnen und Autoren ohne grössere Wiederholungen locker zusammen. Ein Literaturverzeichnis verweist auf allgemeine Werke sowie Bücher und Artikel zu besonderen Themen. Das Glossar, gut gemeint, ist so knapp formuliert, dass es bei manchen Stichwörtern eher Rätsel aufgibt als Klärung und Verständnis zu bringen.
Einiges wird vorausgesetzt
Jürg Schweizer und Bernd Nicolai, die beiden Hauptautoren haben im Verbund mit Brigitte Kurmann-Schwarz, Roland Gerber, Annette Loeffel, Peter Völkle und Jasmin Christ ein interessantes Büchlein geschaffen, das den mehrmals lange unterbrochenen Vorgang des Bauens und das heisst auch des Geldsuchens in den Blick nimmt. Deutlich wird, wie anspruchsvoll die Aufgabe von Beginn weg war, denn das Münster wurde an der Stelle der Leutkirche errichtet unter deren fortwährendem Um- und Abbau. Der Gottesdienst und das Kirchengeläut durften nie unterbrochen werden.
Schade nur, dass den Schreibenden von Anfang an eine Leserin oder ein Leser vor Augen gestanden haben muss, die bautechnisch und kunsthistorisch überdurchschnittlich gebildet, an Details und nicht nur an grossen Linien sehr interessiert und im Lesen auch komplizierter Sätze und Passagen geübt sind. Wieweit auch die anderen Leute „bedient“ werden, denen das Münster ebenso „gehört“, wird sich weisen. Für sie gibt es seit 30 Jahren „Machs na“, einen Führer zum Berner Münster, der keinerlei Kenntnis voraussetzt, Begeisterung für das Bauwerk vermittelt und noch immer durch die Schönheit seiner Gestaltung besticht, die der Schönheit des Münsters entspricht.