Neues wächst an den Rändern

von Christoph Reichenau 11. April 2020

Der Kulturbereich darbt. Ihm fehlt das Publikum, damit Geld und Aufmerksamkeit. Um sich trotzdem Gehör zu verschaffen, um dennoch sichtbar zu bleiben oder neu zu werden, erproben und wagen einige Orte Neues. Darunter sind viele Kleine, etwa ONO, da Mihi, vis-à-vis, Aff-Space.

Ludwig Hohl schrieb in den 1960er Jahren: «Nicht vom Zentrum aus geschieht die Entwicklung, die Ränder brechen herein. (…) Zuerst wird ein Neues gesehen in den Randbezirken, an den zerfasernden Orten der Nebenerscheinungen, des Subtilen, der unmerklichen Spannungen, des fast Unsichtbaren…, dort wo der allgemeinen Meinung nach nur die ‚unpraktischen‘ und nebenhinaus geratenen Fachleute sich beschäftigen können. Und dann … langsamer und rascher, oft unmerklich und bisweilen auch in einem gewaltigen Ruck, schieben sich diese Nuancen-Entdeckungen in den Tag hinein, mehr und mehr der Mitte zu, beherrschen endlich die Welt.» (Dass fast alles anders ist, 1967)

Digitales Feuerwerk

Hier und heute brechen die Ränder herein. Es sind gerade die kleinen Organisationen in der Kultur und in der Bildung, die sich als ideenreich, beweglich und risikofreundlich erweisen. Praktisch jede Volksschule hat es innert Tagen geschafft, innovative Formen des Unterrichts auf Distanz zu entwickeln und einzuführen, und dies ohne IT-Spezialistinnen und -spezialisten, einfach mit einsatzfreudigen, ihrer Aufgabe verpflichteten Lehrpersonen, die sich trauen. An sie wird man nach der Krise ebenso denken müssen wie an die Fachpersonen der Medizin, der Pflege, an die Landwirtinnen und Landwirte, die vielen Berufsgruppen der Lebensmittelversorgung, zuvorderst jene an den Kassen, an die Polizistinnen und Polizisten undsoweiter.

Kunst zugänglich halten

Aber zurück zur Kultur. Zahlreiche Orte, die schliessen mussten, bieten für kommende Anlässe und Aufführungen Gutscheine an, die man jetzt kaufen und damit sofort Geld in ihre Kasse zahlen kann (so das Kulturlokal ONO an der Kramgasse 6, das Kunst/Kulturhaus vis-à-vis an der Gerechtigkeitsgasse 44).

Einen besonderen Weg schlägt die Galerie da Mihi an der Gerechtigkeitsgasse 40 ein. Barbara Marbot und Hans Ryser präsentieren digital ein Kunstwerk des Tages, das erworben werden kann (Rückgaberecht innert 30 Tagen). Sie liefern aus ihren Beständen Kunst nach Hause, kostenlos um Umkreis von 50 Kilometern. Und sie führen den Blog «da Mihi HEUTE», in dem sie Künstlerinnen und Künstler vorstellen, die ihnen aufgefallen sind, auf Zeitschriftenartikel hinweisen, Fragen zur Kunst und zum Sammeln von Kunstwerken aufgreifen. So ist die Galerie «offen», auch wenn die Türe verriegelt bleibt. Kunstwerke kommen via Internet vor unsere Augen und allenfalls sogar real zu uns nach Hause. Wir können uns anregen lassen. Und, ganz wichtig, Künstlerinnen und Künstler bleiben dank Vermittlung der Galerie sichtbar.

Der Affspace (Offspace für Architektur) an der Münstergasse 4, gibt bekannt, die unterbrochene Ausstellung «Eingiessen» nach dem Lockdown weiterführen zu können, und vermittelt über die Website Hinweise auf neue Werke «seiner» Künstler*innen.

Natürlich sind auch die mittleren und grossen Tanker tätig. Das Museum für Kommunikation, das Historische Museum, das Schützenmuseum, das Kunstmuseum und weitere bieten virtuelle Führungen und Einblicke. Das ist verdienstvoll. Doch wer nicht auf dem Quivive ist oder bestimmte Favoriten hat, verliert leicht den Überblick und verirrt sich im Dickicht der Möglichkeiten.

Berner Kulturagenda

Da hilft die Berner Kulturagenda BKA (www.bka.ch). Sie kommt wöchentlich, gut verpackt in der Mittwochsausgabe des Anzeigers Region Bern, in alle Haushalte der Region Bern. Von zwei Seiten zu Beginn des Lockdowns ist sie wieder auf sechs Seiten gewachsen. In der BKA findet man alles, was kulturell gerade passiert, angesagt ist oder heute eben fehlt. In Interviews kommen Künstler*innen, Veranstalter*innen und viele andere zu Wort. Zahlreiche Links verweisen auf die digitalen Angebote und zeigen, was auch im Lockdown an Schätzen aufzuspüren ist.