Neue Perspektiven im Alter

von Janine Schneider 28. Januar 2022

Winterserie «So wohnt Bern» – Ein Sechstel der Berner Bevölkerung ist über 65 Jahre alt. Mit der Frage, wie man im Alter eigentlich wohnen möchte, beschäftigen sich viele erst spät. Dabei sind die Möglichkeiten vielfältig.

Das Patrizierhaus aus massivem Sandstein liegt im Altenbergviertel, nicht direkt an der Aare, sondern leicht zurückversetzt an der Altenbergstrasse. Durch ein hohes Eisentor gelange ich in den Hinterhof, gehe dann die Treppe hinauf zum dahinterliegenden, modernen Anbau des Gebäudes. Linkerhand sehe ich in eine Küche hinein, die Spülmaschine scheint soeben halb ausgeräumt worden zu sein und im danebenliegenden Wohnzimmer liegt eine ältere Frau im Sessel und liest ein Buch. Vielleicht wohnt sie hier mit ihrem Mann, vielleicht sind die Kinder schon längst erwachsen und ausgezogen und das Haus oder die Wohnung etwas zu gross für die beiden. Vielleicht müssen sie, wenn es denn irgendwann nicht mehr gehen sollte, ins Pflegeheim nebenan. So wie es einer Mehrheit der älteren Bernerinnen und Berner ergeht. So etwas könnte man sich denken. In Wirklichkeit ist sie Teil der Alters-WG Stürlerhaus, und wohnt mit neun weiteren Seniorinnen und Senioren genossenschaftlich organisiert unter demselben Dach. Zwei davon sind Regula Willi und Richard Hehl – sie 78, er 88 Jahre alt – die mir bei Kaffee und Keksen in ihrer Gemeinschaftsküche mehr über das Leben im Stürlerhaus erzählen. Die zehnköpfige WG wohnt nun schon seit zwanzig Jahren im Stürlerhaus. Wobei es in den zwei Jahrzehnten nur zwei Wechsel gegeben habe, erklärt mir Regula Willi. Auf meinen verblüfften Blick hin (ich habe in meinen zwei WG-Jahren ganze drei unterschiedliche Personenkonstellationen erlebt) müssen meine beiden Gesprächspartner schmunzeln. «Wir wollten das von Anfang an: Zusammen alt werden», erklärt Regula Willi. Und Richard Hehl wirft ein: «Das war ja der Witz an der ganzen Sache!»

Das imposante Stürlerhaus im Altenberg war früher eine Ausbildungsstätte für Krankenschwestern (Foto: Janine Schneider)

Kino und Traktanden

Studierenden-WGs lassen sich nur bedingt mit ihrer Wohngemeinschaft vergleichen. «Für einen solchen Lebensstil sind wir einfach zu alt», so Regula Willi. So war zum Beispiel eine Grundbedingung, dass alle Wohneinheiten über eine eigene Küche und ein eigenes Bad verfügen müssen. Gemeinschaftsräume gibt es aber durchaus: Eine grossräumige Küche, die sie bei ihren zweiwöchentlichen Sitzungen und bei grösseren Einladungen benutzen, ein langer Esstisch, Fernsehraum und Internetzimmer. Sowie der gepflegte Garten. Die Stürlerhaus-Bewohner*innen sind genossenschaftlich organisiert. Verschiedene Arbeitsgruppen kümmern sich um unterschiedliche Bereiche. Und das Stürlerhaus ist mehr als eine blosse Wohngemeinschaft. Es gibt auch regelmässig öffentliche Kinoabende und ein beliebtes Bed&Kitchen, das sie an Tourist*innen vermieten.

Fühlen sich seit zwanzig Jahren wohl in der Alters-WG Stürlerhaus: Regula Willi und Richard Hehl (Foto: Janine Schneider)

Vorausdenken

Was sich wie ein kleines Paradies anhört, dahinter steckt aber auch viel Arbeit, die Bereitschaft zu Toleranz und Anpassungsfähigkeit. In ganz Bern gibt es nur zwei weitere vergleichbare Wohngemeinschaften älterer Menschen. Auch deshalb, weil der Schritt darüber nachzudenken, wie man im Alter leben will, relativ früh erfolgen muss. «Mit siebzig an eine Alters-WG zu denken, ist zu spät», erklärt Regula Willi. «Bei uns hat alles an einem fünfzigjährigen Geburtstag angefangen», Richard Hehl schmunzelt beim Gedanken daran. Da kam erstmals die Idee auf, sich zu einer Wohngemeinschaft zusammenzuschliessen.

Mit siebzig an eine Alters-WG zu denken, ist zu spät.

«Die Idee stiess auf erstaunlich viel Interesse», erinnert sich der ehemalige Chirurg, «Aber auch auf erstaunlich viele Bedenken.» An der Frage, wie man im Alter wohnen will, zerbrachen sogar Beziehungen. Auch für meine beiden Gesprächspartner war die Entscheidung nicht von heute auf morgen gefällt. «Für mich war schon mit 35 klar, dass ich mal in einer Wohngemeinschaft wohnen möchte. Aber meinen Mann musste ich zuerst etwas überreden», erklärt Regula Willi. Auch Richard Hehl meint, dass er lange nicht weg wollte: «Wir hatten ein schönes Haus oberhalb des Wohlensees. Das wollte ich erst nicht aufgeben.» Bereut hat er seine Entscheidung nie.

Die Stühle am grossen Gemeinschaftstisch stammen aus drei verschiedenen ehemaligen Haushalten (Foto: Janine Schneider)

Hauptsache zuhause bleiben

Claudia Michel von der Berner Fachhochschule beschäftigte sich im Rahmen der Studie «Lebensende im Quartier» mit der Integration älterer Menschen im Quartier mithilfe neuer Wohnformen. «Eine Alters-WG ist am ehesten für diejenigen Menschen eine bevorzugte Wohnform, die schon in einer früheren Lebensphase so gelebt haben», erklärt sie, «Die meisten wollen eigentlich einfach im Quartier bleiben und so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden leben, am besten bis zum Tod. Nur ist das für die wenigsten möglich.» Die gesellschaftliche Entwicklung wirke dem entgegen: Einerseits altere die Gesellschaft zunehmend, andererseits würden die Familien kleiner. Die Last einer Pflege oder Betreuung im Alter bleibe oft auf den Schultern weniger liegen. «Der Wunsch nach dem Verbleib im eigenen Heim ist konstant geblieben, aber die Umstände haben sich zunehmend verschlechtert», so die Forscherin.

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Egal, ob man in der eigenen Wohnung bleibt oder in eine Alters-WG zieht. Die Probleme beginnen oft erst, wenn die Menschen im hohen Alter weniger mobil und stärker pflegebedürftig werden. So geben in der letzten Befragung zur Altersfreundlichkeit der Stadt Bern von 2017 über neunzig Prozent der Befragten an, sehr zufrieden mit ihrer Wohnsituation zu sein. Vielen ist aber ebenso bewusst, dass sie nicht in ihrer Wohnsituation verbleiben können, wenn sie einst weniger mobil sein werden. Der nächste Schritt ist dann oft der Umzug ins Pflegeheim. Diese müssen sich deshalb schon seit längerem mit der Frage beschäftigen, wie sie mit einer immer älteren und älter werdenden Bevölkerung umgehen wollen.

Selbstständig und sicher

«Wichtig ist, dass der alte Mensch nicht aufs Abstellgleis gerät», so Eduard Haeni, Leiter des Burgerspittels, «Er soll bis zum Lebensende in seiner Nachbarschaft integriert bleiben.» Deshalb gibt es mittlerweile neben dem klassischen Pflegeheimplatz auch andere Wohnangebote für ältere Menschen, die den Schritt ins Pflegeheim weiter nach hinten schieben sollen. So beispielsweise «Wohnen mit Dienstleistungen», eine Wohnform, die Selbstständigkeit aber auch Sicherheit bietet, indem neben einer altersgerechten Wohnung unter anderem ein 24h-Notruf und die Reinigung der Wohnung angeboten wird.

Das sind keine Preise für Senior*innen, die Ergänzungsleistungen beziehen müssen.

Damit trifft das Angebot den Zeitgeist. Allerdings nicht gerade zu einem tiefen Preis, denn Pflege kostet. Eine eineinhalb-Zimmer-Wohnung kostet zwischen 3200 und 4130 Fr. monatlich, zweieinhalb-Zimmer um die 5’500. Das sind keine Preise für Senior*innen, die Ergänzungsleistungen beziehen müssen. Selbstständigkeit und Sicherheit kann sich also nur leisten, wer auch schon vorher genug auf die Seite legen konnte. Oder wer von der Stadt unterstützt wird. Bis 2011 leistete die Stadt Bern finanzielle Unterstützung für «Wohnen mit Dienstleistungen». Danach übernahm der Kanton und stellte die Finanzierung ein. Erst seit Kurzem hat die Stadt wieder damit begonnen, im Rahmen eines Pilotprojekts «Wohnen mit Dienstleistungen» wieder zu fördern.

Der Burgerspittel im Viererfeld bietet neben regulären Pflegeheimplätzen auch sogenanntes «Wohnen mit Dienstleistungen» an (Foto: Janine Schneider)

Visionen fürs Alter

Und wie sieht altersgerechtes Wohnen in Zukunft aus? Integrativ, generationenübergreifend und vor allem auch Geldbeutel-gerecht. So möchte der Burgerspittel im Rahmen der Überbauung Viererfeld ein neues Projekt aufgleisen: «Wohnen with Services». Die Idee ist simpel: Senior*innen mieten eine hindernisfreie und ihren Bedürfnissen angepasste Wohnung. Wobei ein Teil der Wohnungen auch für Ergänzungsleistungsbezüger*innen erschwinglich sein soll. Zusätzlich können sie auch Dienstleistungen wie Pflege, Reinigungsservice oder ein regelmässiges Mittagessen in Anspruch nehmen. Müssen sie aber nicht. In der Überbauung soll es Platz geben für eine Anlaufstelle für gesundheitliche und soziale Fragen, kulturelle Angebote, ein Café sowie einen Gemeinschaftsgarten. Und es sollen verschiedenste Generationen miteinander in derselben Siedlung leben und sich gegenseitig unterstützen.

Auch Studierende können die Betreuung und Begleitung von älteren Menschen übernehmen.

«Uns fehlt es in der Schweiz massiv an Pflegepersonal», erklärt Eduard Haeni, «Deswegen leidet gerade die Betreuung und die Begleitung von älteren Menschen. Meiner Meinung nach braucht es für diese Aufgaben nicht ausschliesslich Fachpersonal. Das können beispielsweise auch Studierende übernehmen.» Wenn die Überbauung Mittel- und Viererfeld dereinst fertiggestellt ist, sollen Studierende ihre Miete mit der Leistung von Sozialstunden reduzieren können. Eine Win-Win-Win-Situation.

Sich um einander kümmern

Claudia Michel spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten «Caring Communities» – Nachbarschaftsnetzwerke, die auch jene Senior*innen auffangen, um die sich sonst niemand kümmert. Statt dass das hohe Alter, das Sterben und der Tod zunehmend in spezialisierte Institutionen ausgelagert werden, sollten sich auch Gemeinden und Quartiere in der Verantwortung sehen. Was am Telefon überzeugend klingt, stellt sich in der Realität aber nicht immer als konfliktfrei heraus. Generationenübergreifendes Wohnen ist in Bern schon Realität. Ich kenne kaum eine Person Mitte zwanzig, die nicht im selben Haus mit Senior*innen lebt. Für eine bereichernde Wohnsituation braucht es dazu Offenheit, Anpassungsfähigkeit und Hilfsbereitschaft von beiden Seiten – was in der individualistischen Schweiz der hochgehaltenen Privatsphäre oft genug nicht der Fall ist.

Hier werden im Rahmen der Überbauung Mittel- und Viererfeld dereinst auch Wohnungen für Senior*innen entstehen (Foto: Janine Schneider)

Es braucht also ein Umdenken. Und die Akzeptanz, dass auch in einer Caring Community, sei das nun eine Alters-WG oder ein Wohnblock, in dem verschiedene Generationen zusammen wohnen, der Integration und der Betreuung von Menschen im hohen Alter Grenzen gesetzt sind. Erst kürzlich musste Regula Willi die schwierige Entscheidung treffen, ihren an Parkinson erkrankten Mann in ein Pflegeheim zu geben. Die Belastung war sowohl für sie als auch für ihre Mitbewohner*innen zu gross geworden. Zurück bleibt sie allerdings nicht – wie es so oft der Fall ist – alleine in einem grossen Haus, sondern in einer vertrauten und über die Jahre zusammengeschweissten Wohngemeinschaft mit Blick auf den vorbeiziehenden Fluss, die Aare.