Nachgefragt: Wozu braucht es heute Gewerkschaften?

von Anne-Careen Stoltze 1. Mai 2013

Der 1. Mai ist Grosskampftag der Gewerkschaften. Zum Tag der Arbeit sagt SGB-Sekretärin Dore Heim, was heute ihre Aufgaben sind.

Frau Heim die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren Mitglieder verloren – braucht es die Gewerkschaften heute nicht mehr?

Dore Heim:

Doch, es braucht sie sogar ganz dringend.

Warum?

Der Schweizer Arbeitsmarkt ist mit einem schwierigen EU-Umfeld verbunden und in der Schweiz ist die Lohnschere in der letzten Zeit massiv aufgegangen – unter anderem auch wegen den exorbitant hohen Boni im Finanzwesen. Während die Löhne in den hohen Bereichen weiter gestiegen sind, haben die Löhne im unteren Bereich stagniert und nicht mitgezogen. Das betrifft insbesondere den Tieflohnbereich. Zudem beunruhigen uns neue Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt.

Welche sind das?

Zum Einen nimmt die Temporärarbeit zu. Betroffen sind besonders die Branchen Bau, Gartenbau aber auch der Tourismus und der Detailhandel, wo die Löhne zum Teil beschämend tief sind. Das sind alles Branchen, in denen mal mehr mal weniger Personal gebraucht wird und die Leute nach Saison angestellt werden. Zum Andern beobachten wir mit Besorgnis die Entwicklung bei den freischaffenden Berufen. Es arbeiten heute viele Leute gezwungenermassen freischaffend, wie zum Beispiel Medienschaffende. Ihre Lage wird immer prekärer aufgrund von tiefen Honoraren.

Es gibt eigentlich genügend Menschen, die sich in einer Gewerkschaft organisieren könnten. Trotzdem haben sie Mitglieder verloren, wie erklären Sie das?

Das liegt auch an den grossen Strukturveränderungen bei bundesnahen Betrieben, wie der Eisenbahn, der Post und der Swisscom. Die Angestellten in diesen Betriebe waren traditioneller Weise in Gewerkschaften organisiert. Diese Stammmitgliedschaften bröseln in den letzten Jahren. Gleichzeitig haben wir es geschafft, beispielsweise im Gesundheitswesen, im Detailhandel und insgesamt bei den Frauen neue Mitglieder zu gewinnen. Hinzu kommt, dass sich auch Berufsverbände verändern und gewerkschaftliche Forderungen übernehmen. Da haben wir starke Allianzen geschaffen.

Bei all diesen Veränderungen, wo liegen Ihrer Meinung nach heute die Hauptaufgaben der Gewerkschaften?

Wir wollen dafür sorgen, dass für alle faire Arbeitsbedingungen gelten und dass die Leute von ihrem Lohn leben können. Die Altersvorsorge muss für alle existenzsichernd sein. Zudem sorgen wir dafür, dass Gesamtarbeitsverträge gibt, in denen die Leute kollektiv abgesichert sind. Und wir verhindern, dass sich prekäre Arbeitsverhältnisse ausbreiten. Die Kernaufgaben haben sich nicht verändert.

Was sagen Sie den Frauen am 1. Mai?

Auf den Frauen bauen die Gewerkschaften heute auf. Ich wünsche mir, dass mehr Frauen an der Spitze den Kurs der Gewerkschaften bestimmen.