Zuerst die Blumen:
Sie gehen zum einen an die Delegierten der Behindertensession selbst. Der Ablauf der Session, im Bundeshaus in Bern am Freitag, 24. März 2023, verlief wie am Schnürchen. In meiner Funktion als Reporterin ohne Barrieren hatte ich mich vor Beginn der Session in der Wandelhalle positioniert, um zu beobachten, wie gross das Chaos mit den Rollstühlen würde. Denn in diesen heil’gen Hallen kenne man die Barrierefreiheit nicht, hatte ich mir sagen lassen.
Ich sollte mich aber schwer wundern: Es kam weder zu einem Rollstuhl-Stau noch zu Karambolagen zwischen Blindenstöcken und Rollatoren. Dann fiel mir ein, was ich schon in der Zusammenarbeit mit meinen Kolleg:innen bei Reporter:innen ohne Barrieren erfahren hatte: Menschen mit körperlichen Behinderungen sind grundsätzlich immer extrem gut organisiert, sie planen immer Reserve-Zeit ein, falls etwas doch nicht so klappt wie angenommen. Darum waren sie alle mehr als rechtzeitig bereit. Chapeau, kann ich da nur sagen.
Blumen für die Held:innen
Mein zweiter Blumenstrauss geht an die Menschen mit Behinderungen, die bereits in politischen Ämtern tätig sind. Auch wenn wir Menschen mit Behinderungen – und dazu zähle ich selbst auch – nicht aufgrund unserer Behinderungen als Helden oder Opfer gesehen werden möchten, heisst das nicht, dass es unter uns keine Held:innen gäbe. Klar gibt es die, und was für welche!
Islam Alijaj redet Tacheles! Mir geht das Herz auf, wenn ich ihm zuhöre.
Stellvertretend für all die anderen wunderbaren Redner:innen der Session möchte ich hier Islam Alijaj, Gemeinderat der SP in Zürich, ein Blumenkränzchen winden. Er ist mein persönlicher Held. Mit seiner Eloquenz und seinem Charisma ist er ideal für die Politik. Mit Mut und Durchsetzungsfähigkeit hat er sich als Mensch mit einer Sprechbehinderung im wortlastigen Politik-Geschäft Gehör verschafft.
Dabei ist er keiner, der um den heissen Brei redet. Islam Alijaj redet Tacheles! Mir geht das Herz auf, wenn ich ihm zuhöre. Ich habe das Gefühl, ich kann endlich frei atmen. Er bettelt nicht. Er stellt Forderungen. Und droht sogar mit Revolution: Nieder mit den Barrieren, auf die Barrikaden!
Ein Kaktus für die Organisator:innen der «Behindertensession»
Da gibt man sich die grösste Mühe, sein Umfeld und auch die Menschen, welche die von mir verfassten Beiträge in Radio und Presse hören und lesen, an die Bezeichnung «Menschen mit Behinderungen» zu gewöhnen. Und dann kommt ausgerechnet aus den Kreisen, die es eigentlich besser wissen müssten, die gegenteilige Bezeichnung: «Behindertensession»!
Das sei provokativ gemeint, und solle zur Diskussion anregen, erklärt die Pro Infirmis. Ich denke allerdings, diese Provokation ging voll daneben. Denn provoziert hat die Bezeichnung, so vermute ich, nur uns Betroffene. Die Öffentlichkeit ist noch viel zu wenig im neuen Sprachgebrauch angekommen, um überhaupt mitzukriegen, dass die Bezeichnung «Behinderte:r» als diskriminierend und abwertend empfunden wird. Die vermeintliche Provokation bewirkt vielmehr, dass Otto- und Irma-Normalverbraucher:in denken, die Bezeichnung Behinderte:r sei in Ordnung.
Die Verwirrung bezüglich der Begriffe rund um Behinderungen ist zu gross, um da noch eine Provokation einzubauen. So heisst «Behinderung» auf Italienisch «disabilità», also Unfähigkeit. Auf Rätoromanisch heisst es «Impediments», worin das lateinische Wort für Fuss steckt, und neben Behinderung auch Hindernis, oder auch Unwägbarkeit heissen kann.
Wir könnten das Thema Selbstbezeichnung aufnehmen und einen kreativen Prozess darüber entstehen lassen.
Die Welschen sagen: «handicap». Handicap ist im französischen Sprachgebrauch üblich und akzeptiert. Wohlgemerkt, es ist ein englisches Wort. Handicap ist aber, laut Google und anderen Web-Quellen, im deutschen Sprachgebrauch nicht Ordnung, da der Begriff die Defizite betone.
Persönlich bezeichne ich mich des Öfteren als Mensch mit psychischem Handicap. Der Begriff Handicap kommt aus dem Golfsport und meint den Berechnungsschlüssel, der allen Golfer:innen ermöglicht, ungeachtet ihres Könnens mit- und gegeneinander zu spielen. Mit Hilfe dieser Formel haben alle Spieler:innen die gleichen Chancen und jede:r wird dort abgeholt, wo er/sie steht. Ich mag diesen Begriff. Er ist schick. Hat Stil. Hat Prestige.
Wie man hier sieht: wir Menschen mit Behinderungen sind uns auch untereinander nicht ganz einig, wie wir uns bezeichnen möchten. Wir könnten das Thema Selbstbezeichnung aufnehmen und einen kreativen Prozess darüber entstehen lassen.
Noch ein Kaktus: Fehlendes Informationsmaterial
Nur die Delegierten konnten sich an der Traktandenliste, dem Programm der Session sowie dem Entwurf der Resolution im Voraus erfreuen. Sonst niemand. Eigentlich ist es üblich, dass die Presse zwei Tage vorher mit Pressematerial versorgt wird. Hier war das nicht so. Diese wichtigen Unterlagen wurden erst an der Session selbst den wenigen im Parlament anwesenden Pressevertreter:innen zur Verfügung gestellt, und zwar ausschliesslich in Papierform. Medienschaffenden mit einer Sehbehinderung war in dieser Form kein Zugang zur Information möglich.
Die Session wurde per Livestream übertragen, aber ohne Upload des Programmablaufs, der Redner:innen- und Traktandenliste und des Resolutionsentwurfs. So konnten weder Presse noch Zuschauer:innen des Streams verstehen, worum es im Detail ging: Nämlich um Einwände an der Formulierung gewisser Punkte der Resolution. Das ist sehr schade.
Das Schlussbouquet:
An der Behindertensession trafen sich Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Behinderungen. Solche Treffen sind heute noch viel zu selten. So entstand für uns die wunderbare Möglichkeit, über unsere Tellerränder zu blicken und ‘die Anderen’ zu sehen, sie kennen zu lernen, mit ihnen zu sprechen, ihnen die Hand zu geben. Wir konnten selbst erkennen, was wir eigentlich sind: ein riesiger Bevölkerungsanteil von 22 Prozent!
Wir kommen einfach rein. Und wir kommen, um zu bleiben.
Wir sind zu viele, als dass man uns weiterhin ignorieren könnte! Auch konnten wir zeigen, dass wir alle zusammenstehen. Wir wurden von Weitem sichtbar und hörbar. So kann in Zukunft nicht mehr über unsere Köpfe hinweg entschieden werden, was wir brauchen, sondern wir können selbst darüber bestimmen.
Zugang zur Politik für alle
Klopfet an, so wird euch aufgetan, heisst es. Was aber, wenn niemand aufmacht? Lange blieben wir brav vor uns hin schimmelnd in der Wartezone. Damit ist jetzt Schluss. Wir kommen einfach rein. Und wir kommen, um zu bleiben.
Vor 30 Jahren wurde – unter vielen Vorbehalten und Vorurteilen – die erste Frau zur Bundesrätin gewählt. Eine Sensation. Ohne Druck seitens der Frauen selbst wäre das nie passiert. Heute ist der Bundesrat ohne Frauen nicht mehr vorstellbar.
Genauso selbstverständlich wird schon bald die Präsenz von Politiker:innen mit Behinderungen in Parteien und Parlamenten sein. Und natürlich auch im Bundesrat.
Gewöhnt Euch schon mal dran.