Mühleberg: Abschalten statt aussitzen (I)

von Fredi Lerch 16. September 2014

In Mühleberg steht ein altes Atomkraftwerk mit neuen Rissen im Kernmantel. Nachrüstungen wären dringlich. Weil sie kosten, geschieht nichts. Das könnte Bern noch teuer zu stehen kommen.

11. März 2011, AKW-Katastrophe in Fukushima. In drei der sechs Reaktorblöcke kommt es zu Kernschmelzen. Der Reaktortyp zeigt bisher unbekannte Schwächen. Er ist typengleich mit dem Reaktor von Mühleberg. Darum muss das AKW Mühleberg so schnell wie möglich nachgerüstet werden. Trotzdem passiert nichts.

Schon jetzt ist klar: Auch vier Jahre nach jener Katastrophe wird in Mühleberg keine der vom Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI als nötig erachteten Nachrüstungsmassnahmen im Bau, geschweige realisiert sein. In einem Punkt sind sich ENSI und BKW offensichtlich einig: Aussitzen statt abschalten.

Das sind die drei wichtigsten Schwachstellen des AKW Mühleberg:

Schwachstelle Kernmantel 

Das Stahlgehäuse des Kernmantels umschliesst die Brennstäbe, die Wasser erhitzen und so den Dampf erzeugen, der die stromproduzierenden Turbinen antreibt. Er ist etwa acht Meter hoch, hat einen Umfang von zehn Metern und besteht aus sechs Zentimeter dickem Stahlblech. Beim Bau sind mehrere röhrenartig geformte Stahlblechstücke aufeinander gestellt und zusammengeschweisst worden. So entstanden horizontale Schweissnähte. Seit 1990 ist bekannt, dass es in ihrem Bereich Risse gibt. 1996 sind deshalb vier stabilisierende Zuganker montiert worden. Trotzdem sind die bekannten Risse bis 2013 auf 3,36 Meter Gesamtlänge angewachsen. Ihr Wachstum verläuft nicht linear. Nicht berechenbar ist, wann und wo neue Risse entstehen.

Zur Zeit weiss niemand, wie viele neue Risse es gibt, wie lang und wie tief sie sind und wie schnell sie wachsen.

Jürg Aerni/Jürg Joss

Am 8. September ist nun öffentlich geworden, dass dieser Kernmantel zusätzlich bisher nicht bekannte, vertikale Risse quer zur Schweissnaht aufweist – also Risse ins Stahlblech hinein. Weil die Prüfung bloss visuell und punktuell an der Schweissnaht H 4 durchgeführt worden ist, weiss zur Zeit niemand, wie viele solcher Risse es gibt, wie lang und wie tief sie sind und wie schnell sie wachsen. Trotzdem hat das ENSI am 4. September das «Wiederanfahren» des wegen Revisionsarbeiten zuvor vier Wochen stillgelegten AKWs genehmigt, ohne in seiner Mitteilung die neuen Risse auch nur zu erwähnen. Instabile oder wegbrechende Stahlblechstücke am Kernmantel würden zu Störungen der Wasserkühlung oder zum Verkeilen von Brennelementen und jenen Steuerstäben führen, die im Notfall für die Schnellabschaltung des Reaktors verantwortlich sind. Schlimmstmögliche Folge wäre in beiden Fällen die Kernschmelze.

Wegen der wachsenden Risse hat der Verein «Fokus Anti-Atom» bereits 2008 gefordert, der Kernmantel sei auszutauschen. In Japan und in Schweden hat man gezeigt, dass dies technisch machbar ist (allerdings um den Preis massiver Verstrahlung der Arbeitenden). Die HSG (heute ENSI) hat in Bezug auf Mühleberg 2008 widersprochen, aus technischen Gründen sei der Kernmantel andernorts «einfacher ersetzbar» gewesen, als er es hier wäre. «Einfacher ersetzbar» heisst nicht: unmöglich. Allerdings wäre mit Kosten von über einer halbe Milliarde Franken zu rechnen gewesen. Darum war der Vorschlag nicht diskutabel.

Vernünftig wäre heute, dass AKW abzuschalten: Die wachsenden Schäden am Kernmantel stellen seine Stabilität immer mehr in Frage.

Schwachstelle Notkühlungssystem

Die Ansaugstutzen für das Aarewasser der AKW-Kühlung können bei Hochwasser – und erst recht beim Brechen des Wohlensee-Staudamms – verstopfen. Deswegen wurden sie direkt nach Fukushima im Rahmen der Schnellnachrüstung leicht erhöht und gegen Erdbeben gesichert. In der Folge forderte das ENSI von den Betreibern trotzdem eine unabhängige zweite Kühlwasserquelle bis Ende 2015. Die BKW prüfte vom Kühlturm bis zum Saane-Stollen verschiedene Lösungen und schlägt zur Zeit als Minimalvariante bloss noch vor, die Trinkwasserversorgung von Mühleberg anzuzapfen.

Die BKW prüfte verschiedene Varianten und schlägt nun die Minimalvariante vor.

Jürg Aerni/Jürg Joss

Sofort nötig wäre heute zweierlei: Zum einen die sofortige Realisierung des Saanewasser-Stollens, um eine Aare-unabhängige Notkühlung garantieren zu können, zum anderen der Bau eines vom ersten unabhängigen Notkühlsystems für Reaktor und Lagerbecken (siehe unten). Vernünftig wäre, das AKW abzuschalten, bis ein solches Notkühlsystem in Betrieb ist.

Schwachstelle Brennelemente-Lagerbecken

Aus heutiger Sicht ist das AKW Mühleberg schlecht konstruiert: Das Lagerbecken für die abgebrannten Brennelemente befindet sich ungeschützt im Reaktorgebäude, und zwar über dem Reaktor und über sämtlichen Pumpen der Notkühlsysteme. Die späteren AKWs Gösgen oder Leibstadt verfügen dagegen über externe Brennelemente-Lagerbecken in einem erdbebenfest gebauten Nebengebäude mit unabhängiger Kühlung. Nötig sind solche Becken, weil die Brennelemente nach ihrer Verwendung rund sieben Jahre lang abkühlen müssen, bevor sie in Castor-Behälter geladen und abtransportiert werden können.

Es sind mehrere Schadenfälle denkbar, die zur Kernschmelze von abgebrannten Brennstäben führen können.

Jürg Aerni/Jürg Joss

Im Reaktorgebäude von Mühleberg sind mehrere Schadenfälle denkbar, bei denen das Kühlwasser aus dem höher liegenden Lagerbecken in den Reaktorraum hinunter strömt – etwa bei einem Erdbeben oder wenn ein Flugzeug auf der an der dünnsten Stelle bloss 15 Zentimeter dicken Decke des Gebäudes aufschlägt oder wenn es (wie in Fukushima) innerhalb des Reaktorgebäudes zu einer Wasserstoffexplosion kommt. Dann passiert folgendes: Die Notkühlungspumpen werden unter Wasser und ausser Betrieb gesetzt und gleichzeitig bleibt das darüber liegende Lagerbecken ohne Wasser, weshalb es zur Kernschmelze von abgebrannten Brennstäbe kommt.

Die BKW schlägt für dieses Lagerbecken ein zweites Notkühlsystem vor, das ebenfalls mit dem Wasser aus dem Saane-Stollen gespiesen wird, der dummerweise nicht mehr gebaut werden soll. Vernünftig wäre, das AKW Mühleberg sofort abzuschalten, aber trotzdem so schnell wie möglich eine aareunabhängige Notkühlung zu realisieren. Denn wie gesagt: Bis sieben Jahre nach der Abschaltung besteht die Gefahr einer Kernschmelze. Und immerhin steht das AKW bloss ein Kilometer unterhalb der knapp hundertjährigen, gut 22 Meter hohen Wohlensee-Staumauer.