Ich liebe Ikea. Besser gesagt: Ich liebe es, Ikea Möbel aufzubauen und das wird mir jedes Mal bewusst, wenn ich ein Nicht-Ikea-Möbel aufbaue. Wie diese Kommode, die ich vor einigen Tagen in der Rosa Brocki gefunden habe.
Da der Transport in den vierten Stock eines Altbaus in der Lorraine mit engen Treppen eine Hürde darstellte, entschied ich mich dazu, das Möbel bereits bei der Abholung auf dem Parkplatz zu demontieren. «Das wird schon klappen» meinte ich noch voller Euphorie über den Kauf, als ich mir und meiner besten Freundin die kommende Aufbau-Tortur schön redete.
Auseinandernehmen klappt bekanntlich leicht: Alle Schrauben raus, in einem «Chräschuseckli» aufbewahren und Einzelteile wie Bodenplatte, Füsschen oder Schubladen Fronten in den Kofferraum packen.
Zu oft verurteilen wir voreilig, ohne auf die kleinen Dinge zu achten.
Nervenaufreibend und somit interessant wird es erst beim Wiederaufbau: Welche Teile waren jetzt wofür? In meinem Kopf bildete ich verschiedene Schubladen: Die grossen Platten sind für den Deckel und den Boden, die kleineren Teile mit schöner und hässlicher Seite müssen die Fronten sein.
Manisch fing der Aufbau an, um nach 40 Minuten zu merken, dass die Fronten gar nicht die Fronten der Schubladen waren, sondern die Rückseite. Doch wie kommt es dazu?
Habe ich die Einzelteile womöglich in die falschen mentalen Schubladen gepackt? Und Merkmale wie Breite und Länge zu früh bewertet, ohne auf die Einzelheiten, etwa vorgebohrte Löcher, zu achten?
Und knorzt der Aufbau deswegen? Kämpfen die Scharniere mit den Platten, weil sie einfach einen anderen Zweck zu verüben hätten?
Vielleicht müssen wir umdenken. Nicht zu früh verurteilen und die Gesellschaft umbauen, so wie die Kommode.
Und in dem Moment verstehe ich: Eine Kommode ist wie unsere Gesellschaft. Eine Zusammensetzung verschiedener Individuen und Gruppierungen. Wie die Holzplatten hat Jemensch seinen Platz, seine Lebensrealität.
Zu oft verurteilen wir voreilig, ohne auf die kleinen Dinge zu achten. Obschon sich wie bei den Einzelteilen der Kommode auch bei Menschen einzelne Merkmale herauskristallisieren, wie Erscheinungsbild und Herkunft, wird mit besserer Betrachtung klar: Schubladendenken ist unumgänglich. Doch statt Gruppen zu bilden, und alle zunächst ähnlichen Einzelteile in eine Schublade zu packen, sollten wir jedem Einzelteil eine eigene Schublade geben.
Schliesslich sind nicht alle, die bei der Reitschule unterwegs sind, gleich. Obschon viele den Gleichen Ort nutzen, sind einige kulturinteressierter, andere politisch versierter. Analog die Schubladen-Fronten und -Rückseiten. Auch wenn sie auf den Ersten Blick deckungsgleich sind, unterscheiden sie sich in ihren Aufgaben und in ihren Schraubenlöchern. Sie erfüllen unterschiedliche Funktionen und leben verschiedene Lebensrealitäten. Die einer Frau, einer PoC oder studentisch aus gutem Hause.
Leider begegnen wir im Alltag oft Vorurteilen durch vorgefertigtes Schubladendenken. Rassismus oder Sexismus zum Beispiel. Die Privilegierten in der Schublade der schönen Fronten. Sinnbild für die hässlichen Seiten: Queere Menschen, Fintas und People of Colour.
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Und das ist die Quintessenz: Vielleicht müssen wir umdenken. Nicht zu früh verurteilen und die Gesellschaft umbauen, so wie die Kommode. Entscheiden, dass es keine hässlichen Seiten gibt. Und wenn doch: dann nur in der Welt der Möbel.
Vielleicht müssen wir genau das: Gesellschaftliche Strukturen wie Kommoden demontieren, die Einzelteile lösen und neu aufbauen, positiv konnotieren, die Scharniere wie Machtstrukturen hinterfragen und eine Gesellschaft aufbauen, in der alle ihren Platz haben. Wertfrei. Und die Funktionen und Lebensweisen ausüben können, wie sie es wollen und nicht weil sie es müssen.