Momente der Zerbrechlichkeit

von Christoph Reichenau 7. Februar 2023

«Bach recomposed» heisst der zweite Tanzabend von Bern Ballett im Stadttheater: Drei Tanzstücke zur Musik des grossen Meisters. Fulminant, nachsinnend und auch etwas lang. Wie unterschiedlich Tanz sein kann, wie vielfältig Bach. Aushalten!

Ein Komponist, der vor 273 Jahren gestorben ist. Sein riesiges und vielfältiges Werk, «ein Meer» (wie Beethoven gesagt hat), von dessen Brausen und Tosen wohl alle schon gehört haben, ob sie es wussten oder nicht. Und nun musikalische Rekompositionen von Tamar Halperin, Peter Gregson, Louis Dufort. Und Umsetzungen in Bewegung. Adaptationen von Musik in Musik, Interpretationen der Musik durch Tanz. Ein Wagnis, das der Titel des Abends im Ungefähren belässt.

Kann die Neukomposition der alten, kann der Tanz der Musik gerecht werden? Wird Bach banalisiert, ausgeplündert, «gebraucht»? Oder entsteht mit dem Schauen auch neues Hören?

Aegir

Es gibt, dies ist eine Erkenntnis nach zwei intensiven Stunden, drei unterschiedliche Annäherungen. «Aegir», Uraufführung einer Choreografie des Taiwanesen Po-Cheng Tsai, handelt vom Meer und von Macht. Der Wasserriese aus nordischer Mythologie, sein Kostüm funkelt grün, beherrscht die See und die Bühne in einem gewaltig auftrumpfenden und stets neu Anlauf nehmenden Solo, in Selbstdarstellung, unterstützt und gelegentlich herausgefordert von seiner Familie, schwarz vermummten Tanzenden (Kostüme Dominique Steinegger) verschiedenen Geschlechts.

Die Körper winden und verdrehen sich in ewiger Bewegung von Kraft und Rhythmus.

Man kann die Kostüme lesen als die überwältigende Schönheit des glänzenden Meeres, bewegt von der untergründigen Kraft der sich stets neu bildenden Wellen, die anbranden, sich zusammenballen, verebben. Die Körper winden und verdrehen sich in ewiger Bewegung von Kraft und Rhythmus.

Zwischenspiel

Laut Programm würde dieser berauschenden Choreografie ein Bach-Zwischenspiel folgen, während die Bühne umgebaut wird. Da es nicht angekündigt wird und das Licht anbleibt, was Pause signalisiert, geht die Musik in den Gesprächen des Publikums unter wie der Barpianist beim Fünfuhrtee. Der Schaden lässt sich bei weiteren Aufführungen leicht vermeiden. Das ist wichtig, denn so erhält das Publikum die Gelegenheit, Bach pur zu hören.

Postlude

«Postlude» ist ein Stück des Italieners Mauro Astolfi. Auch dies eine Uraufführung. Die Beziehungen zwischen fünf Tänzer*innen in wechselnden Kombinationen werden um einen mächtigen Korpus herum inszeniert, in dem man einen Tisch, einen Kontor, einen Sarg, ein Mausoleum sehen kann.

Marioenrico D’Angelo, Andrey Alves, Momoko Higuchi, Mari Ishida, Marieke Monquil (von links) im Stück «Postlude». (Foto: Grégory Batardon)

Auseinandersetzungen, Annäherungen, Fluchten, Distanzierungen, Beschwörungen – Stoffe des Menschenlebens, die Bachs Musik und Musik nach Bach über das Alltägliche hinaus erhöhen. Was zieht an einer oder einem vorbei beim Abschied?

Dekonstruktion

Nach der Pause macht als Schweizer Erstaufführung «bODY_rEMIX/les_vARIATIONS_gOLDBERG-excerpts» den Abschluss. Die kanadische Choreografin Marie Chouinard hat das Stück 2005 für die Tanz-Biennale in Venedig kreiert. Überwölbt von Glenn Goulds Aufnahme der Goldberg Variationen, wird klassisches Ballett dekonstruiert, ja fast parodiert.

Die Tanzenden tragen einseitig Spitzenschuhe und hämmern im Stakkato auf den Zehenspitzen. Sie stolzieren mit Spitzenschuhen auch an den Händen. Sie zeigen sich, entblösst und versehrt, auf Krücken. Sie quälen sich mutig über die Bühne. In den Bewegungen beeinträchtigt, denunzieren sie in überraschendem Stolz Ballett als unnatürlichen, den Körper deformierenden Übergriff. Lädierte Körper werden zur Schau gestellt ohne Grazie und in sterilen Formationen (Kostüme Liz Vandal). Eine Art «Ministry of silly walks», wie einst im Sketch von Monty Python.

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So kompliziert und künstlich wie der Titel des Werks ist sein Gehalt. Dass zwischendurch Glenn Gould, der Pianist der Goldberg Variationen, mit verfremdeter Stimme zu hören, doch nicht zu verstehen ist, steigert die Künstlichkeit. Wozu? Und wie wirkt dies auf Menschen, die eine körperliche Beeinträchtigung im Alltag meistern müssen?

Dazu?

Das Ballett-Ensemble ist fabelhaft in Form, vielseitig, in enormer Präsenz, selbst im dritten Stück, wo jede*r Tänzer*in fast solistische Auftritte hat, die sie*ihn «ausstellen».

Wer Bach gut kennt, oder zu kennen glaubt, vermag passagenweise zwischen Musik und Tanz sinnhafte Übereinstimmungen zu entdecken, Steigerungen durch zusammenspielende Töne, Worte, Bewegungen. Doch das braucht es nicht, um begeistert – oder, im letzten Stück, irritiert, ja befremdet – zu sein. Die Musik von und nach Bach ist nicht nur gültig, wenn man sie (wieder-) erkennt; sie ist auch einfach eine Klangwucht, ein Sound. Eine Untermalung der Bewegungen, ein Ausgangspunkt von Überlegungen.

Wie die Dreiheit der Tanzstücke in ihrer höchst unterschiedlichen Beziehung zu Musik von Bach zustande gekommen ist, erläutert das ansonsten sehr informative Begleitheft (Redaktion Bettina Fischer) nicht. Man muss sich einlassen, ohne alles verstehen zu wollen. Wer sich der Kraft der Musik und der Dynamik der Körper aussetzt, erlebt Kunst als Momente der Suche und der Zerbrechlichkeit, die neu Orientierung bieten.