Aufgrund des Gesetzes konnte der wehrpflichtige Yevhen Titov nicht in die Schweiz kommen. Das Fotoprojekt des Künstlers wird von seiner Partnerin Inna Falkova und ihrer Tochter Yevheniia Fainer präsentiert. Sie leben in Kharkiv. Yevhen fährt an die Front und filmt dort als Kriegsjournalist. Er fotografiert auch die Folgen des Beschusses in Kharkiv, um der Welt die Kriegsverbrechen Russlands zu zeigen. Inna bietet den Überlebenden nach den Angriffen psychologische Unterstützung.
Das gemeinsame Ziel der Projekte: Die Auswirkungen des Krieges, der Flucht, des Verlusts und der Zerstörung des Lebens, der Kultur und der Zukunft aufzuzeigen. «Wir sehen den Tod, Verletzungen, Schmerz. Als Psychotherapeutin verstehe ich, dass die Körper der Menschen Informationen über Zerstörung speichern. Um all den Stress und die Angst zu überstehen, führen wir in Kharkiv, trotz Beschuss, weiterhin einen Bewegungsworkshop durch», sagt Inna. Dieser Workshop begann noch vor dem Krieg. Heute hilft der Workshop, unter der Leitung einer erfahrenen Psychotherapeutin, den Menschen zu überleben und den Verlust ihrer Lieben zu verkraften. Yevhen fotografiert auch diese Sitzungen.

In der Ausstellung werden Fotos von Menschen, die neben zerstörten Gebäuden stehen, mit Fotos des Bewegungsworkshops kombiniert. Dies zeigt, wie die Erfahrung des Krieges, Spuren im Körper hinterlässt und der Prozess der Bewusstwerdung in der Bewegung stattfindet. Eine Reflexion über die Folgen des Krieges ist jetzt möglich.
«Die Menschheit hat Millionen Jahre lang eine Zivilisation aufgebaut, und man kann sie in wenigen Tagen zerstören. Das erleben wir gerade in der Ukraine», fügt Inna hinzu. Genau darüber handelt auch der Film «20 Tage in Mariupol», der einen Oscar in der Kategorie «Bester Dokumentarfilm» gewonnen hat. Regisseur Mstyslav Chernov stammt ebenfalls aus Кharkiw. Es ist der erste Oscar für einen ukrainischen Film. Er zeigt die ersten Wochen der Kampfhandlungen in Mariupol und in der Region Donezk während der gross angelegten russischen Invasion in die Ukraine im Jahr 2022. Der Film wird im Rahmen der Ausstellung gezeigt.

«Aggression ist Teil der menschlichen Natur. Ein friedliches Leben ist eine Möglichkeit, die die Menschheit erreicht hat. Um diese Möglichkeit für die Zukunft zu bewahren, müssen wir bereits jetzt arbeiten, auch wenn der Krieg in der Ukraine noch andauert», sagt Falkova. Inna hat neben der Physiotherapie auch einen anderen Beruf. An der Universität in Кharkiw unterrichtet sie Bewegungsdramaturgie. Die Arbeit mit dem Bewusstsein durch körperliche Bewegung ist ein wichtiger Teil des Projekts.
«Die Europäer», sagt Falkova, «brauchen keine Arbeit mit Kriegstrauma, da sie keines haben. Deshalb habe ich fast ein Jahr lang Bewegungsworkshops für die europäische Öffentlichkeit vorbereitet, um in Zukunft eine Welt ohne Krieg zu modellieren.» So wie die Ukrainer*innen bis zuletzt nicht glaubten, dass der Krieg ihr Leben zerstören würde, scheint die halb zerstörte Ukraine den Europäer*innen etwas Fernes und Unwirkliches zu sein.

«Im Workshop modellieren und untersuchen wir die Schritte zur Umgestaltung der Gesellschaftspsychologie. Wir konfrontieren das, wovor wir Angst haben, um es zu überleben und über die Entwicklung zu sprechen. Es ist sozusagen eine Reise des Bewusstseins durch den Körper eines Menschen», sagt Falkova. Der Workshop soll den Geist stärken, er hilft dabei, Kräfte zu sammeln und sich den schmerzhaften Problemen des Daseins zu stellen.
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Der Organisator der Ausstellung Peter Aerni sagt, dass er bisher keine ähnlichen Projekte mit Ukrainer*innen durchgeführt hat. Und bis zuletzt zweifelte er daran, ob Inna aus Kharkiv herauskommen würde, das täglich beschossen wird. «Wir leben nicht unter solch furchtbaren Bedingungen wie die Menschen in Kharkiv. Manchmal habe ich den Eindruck, die Schweiz ist überzeugt, dass wir neutral und damit sicher sind. Das ist ein wenig naiv. Der Krieg ist näher, als wir denken», sagt Aerni.
Das Projekt von Inna und Yevhen hat auch Einladungen für Ausstellungen in Frankreich und Finnland erhalten. In Bern ist die Ausstellung, im Kulturpunkt im PROGR, Speichergasse 4, bis am 15. Juni zu sehen.