Am 6. Februar 2022 ist die Halle halb Baustelle, halb Wohnraum. Während wir am langen Esstisch sitzen, ertönt in unregelmässigen Abständen eine Fräse, weil zwei Bewohner*innen eine Besteckschublade für die Küche bauen. Um ungestört sprechen zu können, verlassen wir die Halle und befinden uns plötzlich in einem ganz gewöhnlichen Treppenhaus. Mit dem Lift gelangen wir in den 6. Stock, wo wir in der Gemeinschaftsdachküche der Genossenschaft Platz nehmen. Kasimir ist 27 Jahre und Soziokultureller Animator, Sarah ist 24 Jahre alt und Journalistin und beide beantworten meine Fragen.
Wie ein italienisches Städtchen
Fällt der Blick vom Esstisch zum Balkon, vorbei an den vielen unterschiedlichen holzigen Wohn-Kisten, sieht es fast so aus, als wäre man in einem schmucken italienischen Villaggio, wo am Abend auf der Piazza viel los ist. Am Morgen öffnen sich die Türen der Kisten und die Bewohner*innen treten hinaus auf die Gasse und laufen durch das Strässchen vorbei an den Nachbar*innen, die vielleicht noch schlafen, oder auch schon wach sind und draussen ihren Espresso trinken.
«Dieses Feeling ist speziell, aber sehr schön», sagt Kasimir, der mir diese Metapher erzählt. Ich kann es nachvollziehen: Durch die vielen Pflanzen und die Weite des Raumes mit dem grossen Wohnraum, der von allen Seiten zugänglich ist, entsteht ein Gefühl von Öffentlichkeit. Es ist eine Umkehr der Raumverhältnisse. Das Leben findet draussen statt – wie in den Ferien, in denen das Zimmer auch nicht so wichtig ist und das Leben draussen stattfindet.
Mobile «Holzchischtli»
«Es fühlt sich einfach anders an, wenn alles selbst geplant und gebaut wurde», meint Kasimir. Die 9m2 grossen Holzkisten sind alle individuell gestaltet. Ein Bewohner ist zwei Meter gross und hat daher eine Art Erker gebaut, um genügend Platz für eine grosse Matratze zu haben. Andere haben eine Glasfront oder ein Dachfenster eingebaut. Auch die Türen sind alle individuell. Ein Grossteil des Materials konnten die Bewohner*innen bei einem Abbruch demontieren, andere Baustoffe konnten sie aus zweiter Hand wiederverwenden.
Allen Kisten gemein ist, dass sie mobil sind, d.h. sie können in der Halle verschoben werden. So ergeben sich immer wieder neue Konstellationen. Über den Wohnkisten hat das Kollektiv eine Galerie gebaut. Die Galerie bietet während der Bauphase einen Rückzugsort über der Baustelle, an dem der Lärm etwas weg und das Geläuf nicht so gross ist. Zudem bietet die Galerie, wie ein Aussichtsturm, einen schönen Überblick über dasTreiben in der Halle.
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Der Genossenschaftsgedanke – ein Gemeinschaftsgedanke
Für Sarah ist der Genossenschaftsgedanke sehr wichtig. «Es ist sinnvoll, sich gemeinsam Wohnraum zu organisieren. So wird er dem profitorientierten Immobilienmarkt entzogen und niemand bereichert sich daran.»
Im Warmbächli wäre es nicht möglich, dass eine einzelne Person eine 3.5-Zimmerwohnung für sich alleine beansprucht. Es gibt ein Genossenschaftskonzept, welches regelt, wer wieviel Raum für sich beanspruchen darf. Das Kollektiv lebt Gemeinschaft, indem sie oft zusammen kochen und essen; wenn die Sonne scheint, treffen sich die Mitbewohner*innen auf dem langen Balkon, auf dem ein kleiner selbst gebauter Pizzaofen steht. Auch die Nachbar*innen sind am Projekt interessiert und einmal kam eine Nachbarin mit einem Kuchen vorbei. Andere hielten die Halle für eine Schreinerei und wollten Möbel bauen lassen, was ihnen nicht zu verübeln ist, denn die Halle gleicht wirklich einer Schreinerei. «Anfangs war das Thema Nähe und Distanz noch schwierig, weil Besuchende oft nicht spüren, dass sie eigentlich in unserer Wohnung sind, wenn sie die Halle betraten. Für uns ist die Halle auch sehr fest ein Safer Space» sagt Sarah.
Ein langer Prozess
Die Planungsphase begann vor rund 3 Jahren. Es gab unzählige Sitzungen und 4 Retraiten, an denen die Idee des gemeinsamen Wohnens und Bauens geplant wurde. Ein Teil des heutigen Kollektivs hat schon in verschiedenen Zwischennutzungen gewohnt und wollte endlich etwas Längerfristiges. Die Planung war herausfordernd, da der Beginn des Bauens noch in weiter Ferne lag, und viel Ausdauer nötig war, um am Projekt dran zu bleiben. Einige frühere Projektbeteiligte sind auch abgesprungen, andere kamen erst letztes Jahr dazu. Rückblickend ist sich das Kollektiv einig, dass die Gruppe Zeit braucht, in der nicht gearbeitet wird. Einmal haben die Bewohner*innen einen Nachmittag lang zusammen mit einer Theaterpädagogin Gruppenprozesse, Geschlechterrollen und Befindlichkeiten besprochen und reflektiert- mitten in der intensiven Bauphase. «Sich scheinbare Ineffizienz zu erlauben, ist wichtig», sagt Sarah und Kasimir stimmt zu.
Film
Der Film zeigt Impressionen aus dem Alltag in der Halle. Ich durfte während der Bauphase mehrmals vorbeikommen und die Bewohner*innen fotografieren und einige Videoaufnahmen machen. Im Video erzählt Mirjam über ihr Erleben des Wohnprojekts. Es sind sehr intime Einblicke und Momente, die die Bewohner*innen der Halle mir gewährt haben und dafür bin ich sehr dankbar.