Mitgehangen, Mitgefangen – Bern im kolonialen Netz

von Lucie Jakob 4. Juni 2020

Die Schweiz besass keine eigenen Kolonien und hat somit keine unmittelbare koloniale Vergangenheit. Nichtsdestotrotz war sie in das kolo­niale System verwickelt. Die studizytig hat nachgeforscht, wo die Spuren des Kolonia­lismus in Bern zu finden sind.

Fällt das Stichwort Kolonialismus, tauchen vor dem inneren Auge meist Grossbritannien, Frankreich oder Spanien auf, die grossen imperialen Mächte mit ihren Kolonien in Übersee, Afrika und Asien. Dass aber auch Schweizer Städte und Akteur*innen bei dieser Geschichte der Ausbeutung mittaten, ist den wenigsten bewusst.

Am Anfang war das Kapital

Man schreibt das 18. Jahrhundert, und in der Republik Bern standen die vermögenden Familien und das Gemeinwesen vor dem Problem, dass im eigenen Staat ein sogenannter Kapitalüberhang entstanden war. Das bedeutete, dass in Bern Geld nicht mehr gewinnbringend angelegt werden konnte, weshalb nach Investitionsmöglichkeiten im Ausland Ausschau gehalten wurde. Diese fanden einige Patrizierfamilien und auch die Republik Bern selbst im transatlantischen Dreieckshandel. Dreieckshandel deshalb, weil Sklaven aus Afrika in die «Neue Welt» verschifft wurden, dort Rohstoffe sammelten, die dann nach Europa gebracht und in den aufkommenden Industrien zu Endprodukten verarbeitet wurden, welche schliesslich (unter anderem) nach Afrika exportiert wurden, womit sich der Kreis – oder eben das Dreieck – schloss. So handelte beispielsweise Rudolf Emanuel von Haller mit Kolonialwaren aus holländischen und französischen Kolonien und besass Aktien der Westindien-Kompanie. Daneben war er auch am Aufbau der «Nouvelle Compagnie des Indes» beteiligt, die unter anderem Sklaven in die französischen Kolonien in Indien verschiffen sollte. Oder Gabriel von May, nach dessen Familie ein Weg in Bern benannt ist: Er handelte mit Tabak in Brasilien und war in das dortige Schweizer Söldnerwesen involviert. Mit der Zeit baute er sich gar ein Monopol auf, wodurch er ein Vermögen erwirtschaftete. Dieser Erfolg war aber nur möglich durch die Beteiligung am transatlantischen Sklavenhandel und der Kooperation mit Plantagen, die Sklaven beschäftigten.

In Bern konnte Geld nicht mehr gewinnbringend angelegt werden, weshalb nach Investitionsmöglichkeiten im Ausland Ausschau gehalten wurde.

Staatliche Anlagen in London

Die Republik Bern ihrerseits legte Teile des Staatsschatzes in ausländischen Aktien an, wobei die grösste Investition in London getätigt wurde. Bern wurde Grossaktionärin der «South Sea Company», deren Auftrag die Versorgung der spanischen Kolonien mit Sklaven war. In der Aktionärszeit der Republik Bern von 1719 bis 1734 wurden ungefähr 20’000 Sklaven von der «South Sea Company» ins heutige Mittel- und Südamerika verschifft. Allerdings gründete die «South Sea Company» auf einer Spekulation, der «South Sea Bubble», die 1723 platzte und grossen wirtschaftlichen Schaden anrichtete. Nichtsdestotrotz blieb die Republik Bern die mit Abstand grösste Einzelinvestorin der South Sea Company. Bei diesen Aktienkäufen spielte auch der bereits damals starke Bankensektor eine grosse Rolle, da die Geschäfte von Agenten der Berner Bank Malacrida und Cie. abgewickelt wurden. Vergleichsweise mit Zürich oder Neuenburg beteiligte sich die Republik Bern jedoch später und weniger stark an diesem Handel und den Spekulationsgeschäften, da ihre wirtschaftliche Hauptausrichtung der Landwirtschaft galt.

«Die Schweiz war keine Insel»

Bereits vor jenen grossen Investitionen war das Bündnissystem der damaligen Eidgenossenschaft und damit auch Bern jedoch vom Handel mit kolonialen Waren abhängig. Man denke nur an die Schokolade, die ohne Verbindung zum Kolonialwarenhandel gar nicht produziert werden konnte. Auch für die Uhren- und Schmuckherstellung, für welche die Schweiz bereits im 17. Jahrhundert zu einem Zentrum wurde, mussten die Rohstoffe von weit her eingeführt werden. Zur Herstellung von Textilien wiederum – zuerst in Heimarbeit, dann beispielsweise in der Ryff-Fabrik, die im Marzili stand und die grösste industrielle Arbeitgeberin Berns war – wurde Baumwolle importiert. «Die Schweiz war keine Insel, auch wenn sie das gerne so darstellt», betont André Holenstein, Professor für ältere Schweizer Geschichte an der Universität Bern, «vielmehr war sie eingebunden in die sie umgebenden Vorgänge in Europa und in das im Entstehen begriffene globale Netzwerk.» So waren beispielsweise Berner Söldner, angeführt von Offizieren der Patrizierfamilien, in den französischen und holländischen Heeren zu finden. Auch Intellektuelle und öffentliche Einrichtungen wie Museen pflegten den Austausch mit ihren europäischen Pendants.

Man denke nur an die Schokolade, die ohne Verbindung zum Kolonialwarenhandel gar nicht produziert werden konnte.

Wissenschaft zwischen Tropenliebe und Rassentheorie

Diese Vernetzung machte sich besonders im Bereich der Wissenschaft bemerkbar. «Die Sammlungen der Museen bauen grösstenteils auf Objekten aus den damaligen Kolonien auf», erklärt Dr. Bernhard Schär, Oberassistent an der Professur für Geschichte der modernen Welt der ETH Zürich. «Diese alten Sammlungen sind von universitärer Seite bis jetzt noch kaum untersucht worden, da gäbe es für die historische Forschung noch viel zu tun», fügt er an. Die tropische Natur übte mit ihrer Diversität eine grosse Faszi­nation auf die Naturwissenschaftler*innen des 18. und 19. Jahrhunderts aus, weshalb viele junge Forscher*innen in die Gebiete der Kolonien reisten – eine Zusammenarbeit mit den Kolonialmächten war dafür unausweichlich. Eine der grössten Sammlungen stammt vom Berner Naturzeichner Johann Wäber oder John Webber, der auf der dritten Expeditionsreise von Captain Cook als Maler mit an Bord war und die Natur sowie die angetroffenen Ureinwohner*innen zeichnerisch festhielt. Er überliess einen Grossteil seiner Zeichnungen und der mitgebrachten Gegenstände dem Historischen Museum in Bern. Ähnlich gestaltet es sich beim Naturhistorischen Museum, dessen ausgestopfte Tiere aus dem afrikanischen Raum von den Grossjäger-Abenteuern von Sohn und Tochter von Wattenwyl stammen. Einige Ausstellungsobjekte wurden auch durch Tausch mit anderen europäischen Museen erworben, wobei deren Herkunft damals nicht besonders hinterfragt wurde.

Die Völkerschauen auf dem Waisenhausplatz oder im Bierhübeli erfreuten sich grosser Beliebtheit.

Gleichzeitig waren die Museen und die jeweiligen Kuratoren treibende Kräfte in der Rassenforschung. Beispielsweise verfasste Theophil Studer, Kurator des Naturhistorischen Museums Bern, Studien zu den sogenannten «primitiven Völkern», indem er Schädel verschiedener aussereuropäischer Stämme mit prähistorischen Schädeln aus der Schweiz verglich. Andere Forschende beschrieben nicht-europäische Menschen als Zwischenstufe von Mensch und Schimpanse und daher als weniger entwickelt. Diese Ansichten wurden durch Gesellschaften wie der geographischen Gesellschaft in Bern, der Theophil Studer vorstand, unter den Intellektuellen aus ganz Europa verteilt. Diese Geschichte der Verwicklung der Wissenschaft mit dem kolonialen Netzwerk ist bis jetzt noch kaum aufgearbeitet worden, weder auf den Webseiten des Naturhistorischen oder Historischen Museums Bern noch bei Einträgen zu Theophil Studer wird auf diese Verbindungen hingewiesen.

Ein ideologisches Fundament

Ein weiterer Berner Intellek­tueller beeinflusste den kolonialen Diskurs beträchtlich: Karl-Ludwig von Haller. Der autodidaktische Jurist und Mitgestalter der bernischen Staatsverfassung war ein erbitterter Gegner der französischen Revolution und schrieb in seinen späteren Jahren ein wichtiges Buch im Bereich des reaktionären und rechtsgerichteten Konservatismus, mit dem Titel «Restauration der Staatswissenschaft». Darin argumentiert er im Gegensatz zur aufklärerischen Philosophie, dass die Europäer*innen den anderen Völkern natürlicherweise überlegen seien und damit auch die Sklaverei in der Natur begründet ist. Einzige Bedingung von Hallers war, dass die Sklav*innen von den Besitzer*innen nicht schlecht behandelt werden durften. In diesem Falle wäre auch seiner Ansicht nach die Sklaverei unrechtmässig. Seine Ideen fanden grosse Verbreitung und Verwendung in den Südstaaten der USA und gerade während des Bürgerkriegs wurde häufig auf die Argumente von Haller zurückgegriffen, um die Sklaverei in jenen Gebieten zu verteidigen.

Kolonialismus im Alltäglichen

Koloniales Gedankengut fand sich aber nicht nur unter den Patrizierfamilien und den Intellektuellen – auch die ganz gewöhnliche Schweizer Bevölkerung war davon geprägt. Gemäss dem Selbstverständnis der Europäer*innen nach, dem sich auch die Berner*innen zugetanfühlten, waren sie den anderen Völkern überlegen. Völkerschauen, an denen Menschen aus Afrika oder anderen Kolonien vorgeführt wurden, waren keine Seltenheit. In Bern wurden diese beispielsweise im Bierhübeli oder auf dem Waisenhausplatz durchgeführt und erfreuten sich grosser Beliebtheit. Auch was die Investitionen angeht, beteiligten sich nicht nur die Patrizier*innen: Berner*innen, die ihr Geld der Bank anvertrauten, waren durch die von der Bank getätigten Anlagen mehr oder weniger wissentlich Teil kolonialer Projekte und Handelsnetze.

Der Widerstand regt sich

Doch zwischen dieser passiven Befürwortung des Kolonialismus und einigen aktiven Akteur*innen regten sich auch einige kritische Stimmen. «Es ist einerseits eine Geschichte der Involvierung, aber immer auch eine Geschichte des Widerstands, gerade vonseiten der kolonialisierten Bevölkerung», wie Schär meint. Davon zeugen die Revolutionen und Unabhängigkeitsbewegungen, die im 18. und 19. Jahrhundert auf dem amerikanischen Kontinent und später dann auch in Afrika und Asien aufkamen. Einige der exilierten Anführer dieser Bewegungen trafen sich in der Schweiz, die dadurch zu einer Drehscheibe für den international vernetzten Kampf gegen den Kolonialismus wurde. Unter der schweizerischen und bernischen Bevölkerung waren zwar progressive Einstellungen wie der Abolitionismus nicht mehrheitsfähig – dafür standen zu grosse finanzielle Interessen auf dem Spiel – aber sie wurden doch diskutiert. Ausserdem zweifelte auch der gerade in Bern stark vertretene Protestantismus an der Rechtmässigkeit der Sklaverei, da aus religiöser Sicht alle Geschöpfe Gottes sind und deshalb niemandem das Recht zusteht, andere schlecht zu behandeln. Diese Positionen machten sich besonders Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkbar, als der Berner Freisinn dem stärker wirtschaftlich ausgerichteten Zürcher Freisinn Begünstigung der Sklaverei und sogar Sklavenhaltung vorwarf.

«Es war eine diskrete, wirtschaftliche Verwicklung in das koloniale System, die die damalige Eidgenossenschaft und Bern kennzeichnete.»

Aufarbeitung der eigenen unangenehmen Geschichte

Das Netz des Kolonialismus erstreckte sich ohne Ausnahme über die gesamte Welt, einschliesslich Bern. Die Folgen davon sind noch heute spürbar und ersichtlich, sei es in unserer Ernährung, in Bauwerken, Diskursen oder der Migration – auch wenn Bern oder die Schweiz keine eigenen Kolonien besassen. «Es war eine diskrete, wirtschaftliche Verwicklung in das koloniale System, die die damalige Eidgenossenschaft und Bern kennzeichnete», merkt Holenstein an. Ohne diese wäre die Schweiz heute nicht so, wie sie ist. Eigentlich offensichtlich, wenn man etwas genauer darüber nachdenkt: Wir könnten weder Schokolade noch Uhren produzieren und hätten eine völlig andere Ernährungskultur, ohne Tomaten, Mais oder Bohnen. Nicht zuletzt wurde auch der Reichtum der Schweiz zu gewissen Teilen mithilfe des Kolonialismus aufgebaut. Zudem spüren Migrant*innen die Auswirkungen des Kolonialismus am eigenen Leib, denn unbewusste Vorurteile, Stereotypen und racial profiling zeigen, dass gewisse Züge kolonialen Denkens noch nicht gänzlich aus der Gesellschaft verschwunden sind. Und doch ist die Geschichte der Verwicklung Berns und der Schweiz in das koloniale System kaum ein Thema, weder im akademischen Bereich noch im Gespräch unter Freund*innen. Deshalb wird es höchste Zeit, dass die Schweiz, Bern und wir selbst uns dieser Vergangenheit bewusst stellen, auch wenn die Debatte über historische Schuld oft unangenehm ist und viele Abwehrreaktionen auslöst.