«Feministisch», «antirassistisch» und «antikapitalistisch» sind die drei Schlagwörter der JUSO im Wahlkampf für Ende November. Eine Gesellschaft, die sich durch diese drei Merkmale kennzeichnet, lässt sich nicht von heute auf morgen umsetzen, auch in der Stadt Bern nicht. Was bedeuten sie konkret für die städtische Politik?
Ich persönlich stehe auf konkrete Utopien. Das heisst, dass man versucht, das Undenkbare im Hier und Jetzt anzustreben. Dafür müssen auch Extremforderungen gestellt werden. Zum Beispiel fordert die JUSO im Bereich Verkehrsplanung Gratis-ÖV und nicht nur einen Schritt in diese Richtung. Oder wir stehen für die radikale Idee einer City Card ein, die auch der migrantischen oder randständigen Stadtbevölkerung Teilhabe und Mitbestimmung ermöglichen soll. Meiner Meinung nach muss der Fokus also auf den grossen Würfen liegen.
Aber natürlich ist die JUSO am Ende auch eine parlamentarische Partei, die im Politgeschäft mitmacht und über kleine Schritte mitdiskutiert. Momentan haben wir das Privileg, mit zwei Sitzen in der SP/JUSO-Fraktion vertreten zu sein und haben dadurch die Möglichkeit auf die grösste Fraktion im Stadtrat Einfluss zu nehmen. In diesen fraktionsinternen Debatten ist es oft auch der Job der JUSO ideologisch zu argumentieren. Und ich finde es ist wichtig, dass es diese ideologischen Positionen in der SP gibt.
Ein grosses Thema sowohl in der JUSO als auch in deinem persönlichen Engagement bei «Wir alle sind Bern» ist die Frage von Inklusion und Partizipation der migrantischen Bevölkerung, wie du vorher schon angesprochen hast. Was ist der Missstand in der Integration von Migrant*innen in der Stadt Bern?
Es gibt sehr viele Missstände und es gibt viele verschiedene Migrant*innen. Es gibt einerseits die Menschen die neu nach Bern kommen. Da wurde im Sommer ein Systemwechsel im Migrationswesen vollzogen und zurzeit herrscht ein riesiges Chaos. In der «Heitere Fahne» arbeite ich mit Menschen zusammen, die plötzlich ihre Transportkosten nicht mehr bezahlt kriegen oder ihre Wohnung nicht wechseln dürfen. Die Betroffenen befinden sich in einem Vakuum.
Auf der anderen Seite gibt es die migrantische Bevölkerung, die schon länger hier lebt, aber keinen Schweizer Pass besitzt und dadurch von der institutionellen Politik ausgeschlossen ist. In der Stadt Bern ist das ein Viertel der ganzen Bevölkerung! Dieser Ausschluss entspricht nicht mehr den städtischen Realitäten. Deshalb ist es mir auf politischer Ebene ein grosses Anliegen, diesem Viertel der Stadtbevölkerung die Mitbestimmung zu ermöglichen, die sie verdient.
Dann lass uns über diese ausgeschlossenen 25 Prozent sprechen. Wie soll die migrantische Bevölkerung der Stadt Bern inkludiert werden?
Um wieder mit der grossen Forderung anzufangen: Das Ziel für die Zukunft muss ein städtisches Stimm- und Wahlrecht für Ausländer*innen sein. Und ich bin mir sicher, dass dies irgendwann umgesetzt wird, es ist nur eine Frage der Zeit. Wir werden die ausländische Bevölkerung nicht auf ewig von der Politik ausschliessen können. Dieses Ziel liegt zurzeit leider noch in der Ferne. Die Stadt Bern kann ein Stimmrecht für Nicht-Schweizer*innen nicht auf eigene Faust einführen, weil das kantonale Gesetz diese Kompetenz den Gemeinden nicht zuspricht. 2010 hat man mit der Initiative «zäme läbe, zäme schtimme» auf kantonaler Ebene versucht, ein kommunales Stimmrecht zu ermöglichen, doch sie wurde mit über 70% der Stimmen abgeschmettert. Also muss ein anderer Weg gesucht werden.
Der grosse Wurf für die mittelfristige Zukunft wäre die City Card, an der wir bei «Wir alle sind Bern» schon seit Jahren arbeiten. Dies wäre eine städtische Identitätskarte für alle Stadtbewohner*innen, auch für Sans-Papiers. Damit kann die Stadt ein Zeichen setzen, indem sie sagt, «Stadtbewohner*innen sind Stadtbewohner*innen, egal woher sie kommen». Entscheidend ist der Lebensmittelpunkt und nicht die Herkunft einer Person. Momentan gibt es eine städtische Arbeitsgruppe, die eine solche Identitätskarte auf politische und rechtliche Möglichkeiten abklärt. Auch hier scheinen die Möglichkeiten zum jetzigen Zeitpunkt noch ziemlich begrenzt zu sein.
Deshalb ist es jetzt die dringende Aufgabe von uns, Realitäten zu schaffen, die eine Grundlage für rechtliche und politische Veränderungen bieten. Das bedeutet, wir müssen sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in der Politik aktiv auf das Ziel einer solidarischen Stadt hinarbeiten. Von unten nach oben. So gibt es auch andere Verfahren, die schon heute möglich wären, um die migrantische Bevölkerung einzuschliessen, ohne dass dafür Kantons- oder Bundesrecht gebrochen werden müsste.
Zum Beispiel?
Zum einen spielen da die Quartierorganisationen eine wichtige Rolle. Sie sind ein der institutionellen Politik nahestehendes Gremium, in dem Ausländer*innen partizipieren können. Diese könnten gestärkt werden. So könnte man die Stadtteile neu organisieren, stärken und mit mehr Kompetenzen ausrüsten, indem man sie beispielsweise mit einem Budget ausstattet, das sie eigenmächtig verwalten können. Oder indem man ihnen mehr Entscheidungsmacht über das eigene Quartier verleiht. Zum andern gibt es die Idee des partizipativen Budgets. Das bedeutet, dass die Stadtbevölkerung – und zwar ohne Ausschluss – über ein bestimmtes Budget verfügen und selbst die Projekte bestimmen kann, die realisiert werden sollen. Dieses Verfahren wird bereits in Paris, New York, in Madrid aber auch in Lausanne praktiziert. In Zürich läuft dazu gerade ein Versuch. Bern müsste unbedingt nachziehen. Denn so können in den bestehenden Realitäten Inklusion und echte Teilhabe und Mitbestimmung erlebt werden, was die Grundlage für weitere Schritte schaffen kann. Die Aufgabe der JUSO im Stadtparlament wird es sein, kleine Schritte in diese Richtung zu fordern.
Momentan stecken wir in einer Krise und viele Menschen sind mit den eigenen Problemen beschäftigt. Viele bangen um ihren Job, manche um ihr Geschäft und einige um ihre Gesundheit – wie schafft man es, Menschen in dieser Situation auch noch für die Probleme anderer zu sensibilisieren?
Nun ja, der erste Lockdown war in dieser Hinsicht spannend. Nämlich in dem Sinne, dass das Wort «Solidarität» auf einmal sehr wichtig wurde. Alle haben von Solidarität gesprochen. Natürlich kann man über den Erfolg der tatsächlichen Solidarität diskutieren. Aber dass das Wort in der Gesellschaft wichtig wurde, ist jedenfalls ein gutes Zeichen. Ich glaube, dass das nur möglich war, weil der Staat das Gefühl vermitteln konnte, dass schon «zu einem geschaut» werde. Es gab Kurzarbeitsgeld, Kulturausfallsentschädigungen und staatliche Kredite. Dass der eigene Rücken gestärkt wurde, gab die Möglichkeit, sich diesem Privileg bewusst zu werden und zu merken, dass wir auch in der Zivilgesellschaft die Möglichkeit haben zu einander zu schauen. Ich glaube, dass es diese Sicherheit jetzt wieder sehr stark braucht. Wenn wir nicht nur zu uns selbst schauen und unsere eigene Existenz retten müssen, können wir solidarisch untereinander sein.
Apropos solidarisch sein: Welches Geschäft eines politischen Gegners wird die JUSO unterstützen?
(Lacht) Die Linke zählt wohl nicht als politischer Gegner? Die AL hat nämlich gerade eine wunderschöne Motion zum Thema «partizipatives Budget» eingereicht. Die hätte ich selbst gerne geschrieben. Aber einen Vorstoss eines politischen Gegners zu nennen, das ist nicht ganz einfach. Vieles, was letztens von der Bar- und Clubkommission BuCK gefordert wurde, die ja eigentlich sehr freisinnig geprägt ist, unterstützen wir auch. Auch wenn wir dabei noch einen stärkeren Fokus auf die Arbeitnehmenden in Kultur- und Gastrobetrieben legen und es ja auch nicht unbedingt eine freisinnige Forderung ist, dass der Staat für Betriebe einspringen soll (schmunzelt).
Was wird die JUSO in zwei Jahren im Stadtrat umgesetzt haben?
Sobald wieder öffentliches Leben möglich wird, setzt sich die JUSO dafür ein, dass im öffentlichen Raum, in der Innenstadt, aber auch beispielsweise an der Aare entlang Freiräume möglich werden. Und zwar konsumfreie Räume, die auf kulturelle und inklusive Art bespielt werden können.