Mit Marianne Wille im Schloss

von Bettina Gugger 13. April 2024

Literatur In ihrem Literaturlabor bringt die Literaturwissenschaftlerin Marianne Wille Leserinnen und Lesern Klassiker der Moderne nahe. Der aktuelle Kurs widmet sich Franz Kafkas Roman «Das Schloss», welcher die Grunderfahrungen des modernen Menschen thematisiert.

Frau Wille, wann fühlten Sie sich zum letzten Mal wie der Protagonist K. in Kafkas Schloss?

Marianne Wille: Vielleicht vor drei Wochen, als ich im dichten Schneegestöber beim Skifahren kurz die Orientierung verlor und bei einem Sturz die rechte Hand brach … Aber im Grunde mache ich mein Lebensziel nicht von Dingen oder Autoritäten abhängig, die mir ihren Zugang verwehren. Und ich verlasse mich auch nicht auf zweifelhafte Mittels­personen …

Was macht Franz Kafkas Roman heute immer noch aktuell?

Kafka geht neben uns, wenn wir uns machtlos gegenüber Autoritäten fühlen, wenn wir gemobbt, gedemütigt oder verlassen werden. Seine Erzählungen «Das Urteil» oder «Die Verwandlung» sind wahre «Familienaufstellungen»: Sie sezieren die bürgerliche Familie, sie fordern uns auf, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen, statt passiv alles zu erdulden. Sie zeigen uns aber auch, wo unsere Lebenslügen verborgen sind, die ein wahrhaftiges Leben verunmöglichen. Seine Romane führen uns vor Augen, was mit uns geschieht, wenn wir Autoritäten über unser Leben bestimmen lassen, ohne dass wir ihre Schäbigkeit entlarven. Nur wenn wir ihre Macht anerkennen, sind wir ihnen auch unterworfen.
Wir dürfen nicht, wie der Mann vom Lande in «Vor dem Gesetz», vor lauter Fixierung auf die eine Tür, durch die wir gehen möchten, unser ganzes Leben versäumen. Und: Kafka zu lesen ist, trotz aller Düsternis, auch ein grosses Vergnügen, wenn man sich auf den zum Teil absurden Humor einlässt.

Was würden Sie Franz Kafka fragen, wenn Sie eine Zeitreise unternehmen und mit ihm einen Kaffee trinken könnten?

Privates mag ich ihn nichts fragen, das verbietet mir meine Zurückhaltung. Aber: Franz Kafka war ein leidenschaftlicher Kinogänger – das scheint in seinen Tagebüchern immer wieder durch. Vieles in seinen Romanen und Erzählungen deutet darauf hin, dass Kafka sich durch das neue Medium dazu in­spiriert fühlte, eine ähnliche Erzählweise in der Literatur auszuprobieren. Gerne würde ich mit Franz Kafka im Prag seiner Zeit ins Kino gehen und mich anschliessend in einem Beisel bei einem Glas Wein mit ihm über den Film, den wir gerade gesehen haben würden, unterhalten. Und bis weit in die Nacht würden wir durch Prags verlassene Gassen gehen.

Wie bereiten sich die Teilnehmenden Ihres Literaturlabors am besten auf «Das Schloss» vor?

Der Roman wird in Lektüreetappen gelesen, die während der neun Kursabende besprochen werden. So können die Teilnehmenden von den Inputs der Kursleiterin und den Diskussionen profitieren.

Was erwartet die Teilnehmenden?

Ich möchte die Teilnehmenden dabei unterstützen, literarische Texte der klassischen Moderne, die möglicherweise als schwer zugänglich erscheinen, zu lesen und zu verstehen. «Lesen» heisst: Das im Text Verborgene wird beim mehrmaligen und genauen Lesen erhellt, und wir können erkennen, wie sich Texte beim Wiederlesen verwandeln, wie der Schatz, der darin verborgen ist, gehoben wird (wenigstens teilweise – Kunst enthält immer auch ihr Geheimnis). Als Literaturwissenschaftlerin zeige ich den Teilnehmenden, mit welchen Mitteln man an einen Text herangehen kann, wie er inhaltlich, sprachlich, stilistisch oder literarhistorisch betrachtet werden kann. Für mich das Wichtigste aber: Als passionierte Leserin möchte ich meine Leidenschaft an die Leserinnen und Leser weitergeben – die Diskussionen verlaufen daher auch häufig sehr lebhaft und lustvoll.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Anzeiger Region Bern.