Zwischen den Terminen zweier Fulltime-Jobs (das eine Engagement noch nicht aus der Hand gegeben, das andere frühzeitig angetreten), hält Cyril Tissot sein grosses, dunkles Auto am Strassenrand, damit eingestiegen werden und die Suche nach einem geeigneten Gesprächsort beginnen kann. Draussen soll es sein, damit er «eine oder zwei» rauchen könne. Die pompös-schallende Orchestermusik, die aus dem Autoradio dringt, wird abgedreht und nach ein paar Runden durch die Stadt fällt die Wahl auf das Parkcafé Orangerie Elfenau. Die Terrasse ist leer, helle Wolldecken warten auf ihren wärmespendenden Einsatz. Erstaunlich gemütlich wird es dann doch unter den Sonnensegeln, welche derzeit eher als Nieselregensegel dienen, als Tissot zu erzählen beginnt.
Cyril Tissot:
«Die Musik hat mich immer umgeben. Ich hatte aber lange Zeit die Disziplin nicht dazu, aus dem leidenschaftlichen Gefühl ‚Wissen und Können‘ zu machen. Als ich dann eine Sängerin heiratete, kam die gelebte Musik ins Haus, und meine Motivation, doch noch eine fundierte musikalische Ausbildung zu absolvieren, erhielt frischen Aufwind. Während meines Werdegangs im Bereich der Kunst und Kultur hatte ich regelmässig mit Orchestern und Musikensembles zusammengearbeitet und dabei oft die Dirigenten beobachtet. Ich wusste, dass ich mich bei der Arbeit mit Gesang, als Dirigent, wohl fühlen würde. Deshalb schien mir die Chorleiterausbildung gerade richtig.»
«Wir kommen gut voran»
«Beim Postmännerchor stieg ich also als ‚Dirigenten-Neuling‘ ein und traf auf 25 rüstige und motivierte Männer mit geschulten Stimmen und viel Erfahrung. Ich lernte von ihnen mindestens genau so viel wie sie von mir. Viele der 25 Sänger sind schliesslich schon seit über 40 Jahren dabei. Ich entdeckte auch solch angenehme Vereinstraditionen wie jene der Chorreise, und ich erhielt Einblick in ein neues Repertoire. Luc Balmers ‚Mys Bärn‘ ist zum Beispiel ein wunderschönes Lied, das ich vorher nicht gekannt habe.
«Meine Arbeit soll mich absorbier- en.»
Cyril Tissot, Dirigent des Berner Postmännerchors.
Bis auf zwei sind alle Sänger pensioniert, das Durchschnittsalter ist rund 70 Jahre. Sie wollen einmal in der Woche zusammenkommen, um gemeinsam zu singen. Auftritte sind eher zweitrangig. Auch werden keine neuen Mitglieder gesucht. Zu Beginn meiner Anstellung als Chordirigent habe ich dennoch darauf bestanden, dass wir neue Stücke einstudieren, anstatt nur auf das Bekannte zurückzugreifen. Es tut letztlich allen gut, nicht aufzugeben und auch innerlich fit zu bleiben. Wir kommen also gut voran. Auch ich selber. Die Sänger meinten kürzlich im Scherz zu mir, dass ich das Klavierspiel inzwischen schon viel besser beherrsche als am Anfang.»
«Unwohl in engen Strukturen»
«Aufgewachsen bin ich in Le Locle in einem eher bodenständigen Umfeld. Ich hatte aber schon immer eine grosse Kulturaffinität, dem Theater galt dabei lange mein Hauptinteresse. Die Emotionen auf der Bühne haben es mir angetan. Nach dem Gymnasium in La Chaux-de-Fonds studierte ich während acht Jahren Germanistik und Anglistik an der Universität Neuchâtel und Theaterwissenschaft in Bern. Ich hatte viel Spass am Umgang mit diesen Themen, genoss es, Seminare zu besuchen und auf die Prüfungen zu lernen. Ich hatte mich völlig abgekapselt und tauchte voll in die Materie ein. Abgeschlossen habe ich keines der Studien, sie haben mich aber umso mehr in künstlerischer Hinsicht inspiriert. Als 20-Jähriger eröffnete ich meiner Mutter, dass ich zum Theater gehe. Entgeistert erwiderte sie mir nur, dass das ja gar kein richtiger Beruf sei. Das künstlerische Schaffen entspricht mir aber. In engen Strukturen fühle ich mich unwohl. Eine Arbeit, die von 9 bis 18 Uhr dauert, verleiht mir schnell das Gefühl, das Ganze könne nicht ernst gemeint sein. Meine Arbeit soll mich absorbieren.»
«Mit Musik Ängste abbauen»
«Kunst ermöglicht es den Menschen, ein Verständnis von sich und den anderen zu erlangen.
«Je mehr Menschen den Zugang zur Kunst ermöglicht wird, desto ange- nehmer wird unsere Gesell- schaft.»
Cyril Tissot, Dirigent des Berner Postmännerchors.
Kunst weckt Emotionen, die helfen, das Leben anders, bewusster zu gestalten. Es ist schön, dass schon viele davon profitieren können, aber es könnten noch mehr sein. Deshalb ist die Vermittlung von Kunst so wichtig. Je mehr Menschen der Zugang zur Kunst ermöglicht wird, desto angenehmer und zukunftsgerichteter wird unsere Gesellschaft, davon bin ich fest überzeugt. Durch die gemeinsame Auseinandersetzung mit Musik und Theater, Bildern und Filmen wird der Mensch offener, und Ängste vor dem Ungewissen und Fremden können zugunsten eines gegenseitigen Verständnisses abgebaut werden. Das führt unweigerlich in eine friedlichere Gesellschaft.»