Ein grosser Aufkleber prangt an der Front eines verglasten Raums an der Zähringerstrasse in der Länggasse: «FLAVR SAVR» steht da. Darunter schaut eine Tomate frech über den Rand ihrer Sonnenbrille Besucher*innen entgegen, die der Vernissage in heiterem Saus und Braus beiwohnen. Die Stimmung ist ausgelassen, Menschen jeder Altersklasse. Der Sommer ist vorbei – das ist gut, die Badi wird gegen Kunst getauscht.
«Schau Mama, hier kann man Tomaten kaufen», sagt ein kleiner Junge im Vorbeigehen und zeigt auf die leeren Gemüsekisten im Schaufenster. Die Ausstellung wurde von den Künstler*innen Fine Bieler und Philip Kanwischer in gemeinsamer Arbeit konzipiert.
Flavr Savr, das ist eine Tomate: Das erste genmanipulierte Lebensmittel, das in den USA für den menschlichen Verzehr freigegeben wurde und Anfang der 90er-Jahre – nicht ganz vorbehaltlos – auf den Markt kam. Durch die Veränderung ihrer Zellstruktur reift sie länger und entwickelt einen intensiveren Geschmack, ohne dabei weich zu werden.
Mit der Tomate als zentrales Medium führen uns Bieler und Kanwischer multimedial durch vergangene und gegenwärtige Geschichten der Tomatenindustrie – aber auch darüber hinaus zu aufwühlenden, übergreifenden Themen: Unter Anderem zur Globalisierung, Massenprodukten, Kontamination von Lebensmitteln, bis hin zu Machenschaften der italienischen Mafia. Eine kleine Weltreise in zwei Räumen, die die Betrachter*innen mit Ästhetik und Humor in ihren Bann ziehen.
Frischer Wind weht durch die Länggasse
Die Zähringerstrasse 42, ehemals unter dem Namen Sattelkammer, wird neu vom Bacio Collective bespielt. FLAVR SAVR ist dessen erste Ausstellung im neuen Zuhause und wurde am 16. September eröffnet.
Das Kollektiv ist verbunden durch das Interesse an der Kuration und dem Schaffen von Kultur – sie wollen dieses Feld aktiv mitgestalten und nicht nur Zuschauende sein. So fanden Emma Fankhauser, Viviane Stucki, Basil Studer, Nicola Rossi und Nico Gehbauer zum Bacio Collective zusammen. Bis zur Übernahme der Sattelkammer waren sie in einer Zwischennutzung, der alten Schreinerei im Mattenhof heimisch. Die Fünf sind nicht nur Kurator*innen, sondern selbst auch freischaffende Künstler*innen, die an verschiedenen Orten in der Schweiz an Kunsthochschulen studiert haben.
Als Künstler*in gehe es so mehr um ein Netzwerk, als um das jeweilige Werk. So zumindest kann es sich anfühlen.
Worum geht es ihnen? Im Gespräch mit Journal B reden sie von der dürftigen Breite an jungen Berner Kunsträumen und der damit einhergehenden Dringlichkeit zur Selbstorganisation. Zudem sei ihnen der mangelnde Austausch zwischen den verschiedenen Städten und Kunst-Bubbles aufgefallen. Die immer gleichen Namen an den immer gleichen Orten. Als Künstler*in gehe es so mehr um ein Netzwerk, als um das jeweilige Werk. So zumindest kann es sich anfühlen. Ein Sich-im-Kreis-drehen. Diese Bubbles aufzubrechen, neue Positionen und Menschen kennenzulernen und ihnen die Chance zu geben, ein Teil einer Ausstellung zu werden, hat sich Bacio zum Ziel gesetzt.
Die Gratwanderung einer reflektierten Machtposition
Mit welchen Regeln gespielt wird, wenn man sich entscheidet, Ausstellungen zu machen, die möglichst viele Positionen mit verschiedenen Hintergründen zeigen sollen, ist eine der essentiellsten Fragen, der sich das Kollektiv aussetzt. Bis anhin arbeiteten sie vorwiegend mit Open Calls in englischer Sprache. Künstler*innen senden ihr Portfolio ein, sofern sie sich durch die Ausschreibung angesprochen fühlen.
Aus den Bewerbenden werden für eine Gruppenausstellung wenige Arbeiten ausgewählt. Eine zeitaufwändige, sehr intime Arbeit, welche die Prüfenden in eine Machtposition setzt, die sie reflektieren wollen. Das erfordert viel Feingespür und Respekt mit den Einsendungen. Eine Gratwanderung, auf die sich die Fünf immer wieder begeben.
Dieser Anspruch bringt auch Absagen für Menschen mit sich, die man vielleicht gut kennt, oder solche, die zwar schon grössere Erfolge feiern durften, doch hier nicht schon wieder gezeigt werden sollen und wollen. Gleichzeitig wird ein Fenster geöffnet, das schweizweit aufstrebende Künstler*innen mit Besucher*innen zusammenführt, die sonst nie den Weg in die Schreinerei, – oder eben ab jetzt in die Sattelkammer finden würden.
Durch die eigenständige Vernetzung von Berner Offspaces ergab sich in Gesprächen die Möglichkeit, mit dem Kollektiv in die Länggasse zu ziehen. Keine leichtfertige Entscheidung, denn sie bringt die langfristige Verantwortung mit sich, den Raum divers zu bespielen und am Leben zu erhalten. Vor allem neben dem Anspruch als Einzelpersonen in der persönlichen künstlerischen Arbeit ebenfalls weiterzukommen. Denn die eigene Atelierzeit ist das erste, was gestrichen wird, damit das Kurationsteam alle seine anstehenden Aufgaben lösen kann. Durch zuversichtliche und mutige Diskussionen ist das Kollektiv nun aber da, wo es sein soll. Anstossen mit Prosecco auf die erste Vernissage – und auf alle, die noch kommen werden. Bacio und bis bald.
Die Ausstellung Flavr Savr kann noch bis am 8.10 an der Zähringerstrasse 42 in Bern besucht werden. (Weitere Informationen auf Instagram @bacio_collective)