«Das Publikum ahnt nicht, dass man mit euren Instrumenten auch auf diese Art und Weise, mit ‹nicht richtigen Tönen› Musik machen kann. Deshalb nehmen wir eure Musik auf und führen sie vor.» So erklärt Barbara Balba Weber, Musikerin und künstlerische Leiterin von Tönstör, der Bläserklasse der Mösli-Schule ihr Vorhaben. Die Jungen und Mädchen, von denen die meisten vor knapp vier Monaten zum ersten Mal ein Musikinstrument in die Hände genommen haben, werden so auf einmal zu Musikvermittlern, zu Vermittlerinnen ihrer eigenen Musik.
Während dreier Wochen haben sich die 11-Jährigen unerschrocken auf die Suche nach neuen Bespielmöglichkeiten ihrer Hörner und Trompeten, Flöten und Posaunen gemacht. Jetzt zeichnen sie die gefundenen Klänge, Laute und Rhythmen auf, mit einer Ernsthaftigkeit und Konzentration, die Schule machen könnte. Ihre Stücke sind die ersten des entstehenden Gesamtwerks «Totally Flipside», das im Herbst im Rahmen des Musikfestivals Bern zur Aufführung kommen wird.
«Inzwischen bin ich gegen schräge Töne immun»
Die Kinder einer Bläserklasse lernen zuerst alle Instrumente kennen und können sie ausprobieren. Nach einem Monat geben sie ihre Wunschinstrumente an und bekommen dann ein Instrument zugeteilt. Die Klarinette, das Horn, die Tuba oder das Euphonium gehört für die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler fortan zum Unterricht wie Rechnen, Schreiben und Lesen, das Üben wird in die normalen Hausaufgaben integriert.
«Die Kinder werden nicht gefragt, die Eltern kurz informiert. Das Ganze ist heute selbstver- ständlich.»
Jean-Luc Reichel, Co-Leiter der Bläserklasse Ostermundigen
Im 2002 gründete Flötist und Musiklehrer Jean-Luc Reichel, inspiriert von einem Kurs in Deutschland, in Ostermundigen eine der ersten Bläserklassen in der Schweiz. «Ich fuhr mit einer gewissen Skepsis in den Kurs», gibt er zu. «Mir war klar, dass der Instrumentalunterricht in einer Bläserklasse oberflächlich, die Musik anfangs ein Getröte sein wird. Als Einzelunterrichtslehrer an Musikschulen war ich mir anderes gewohnt.» Dass er mit einer Bläserklasse aber eine ganze Klasse musikalisch aktivieren und den Musikunterricht statt rein theoretisch mit Orchesterarbeit gestalten könnte, reizte ihn dennoch. «Die Schulleitung hat mich damals belächelt und dem Projekt kaum eine Chance eingeräumt.» Sie lag falsch. Inzwischen ist die Bläserklasse in Ostermundigen etabliert. «Die Kinder werden gar nicht mehr gefragt, die Eltern kurz informiert. Das Ganze ist heute selbstverständlich, und ich bin inzwischen gegen die schrägen Töne immun.»
Gleiche Chancen in Zentrum und Peripherie
In Deutschland entstanden im Rahmen des «JeKi-Programms» («Jedem Kind ein Instrument») in den letzten fünf Jahren zahlreiche bundesstaatlich geförderte Musikklassen. Die Initiatorinnen und Initiatoren gehen davon aus, dass das Erlernen eines Instrumentes und das gemeinsame Musizieren sich nicht nur positiv auf die musikalischen Kompetenzen der Kinder auswirkt, sondern auch die Entwicklung ihrer sozialen Fertigkeiten sowie ihrer Persönlichkeit unterstützt. Ebenfalls staatlich finanziert ist ein gross angelegtes Forschungsprogramm, das wissenschaftliche Erkenntnisse über die Ziele der JeKi-Programme erarbeiten soll.
«In der Innenstadt und im Kirchen- feld erhalten etwa 50 Prozent aller Kinder Unterricht am Konsi, in Bern West unter 10 Prozent.»
Gerhard Müller, Direktor der Musikschule Konservatorium Bern
Auch in der Schweiz findet der JeKi-Gedanke Anklang. So sollen in der Stadt Bern auch Kinder und Jugendliche aus Familien mit bescheidenen Mitteln ein Musikinstrument erlernen können. Dies ist das ausgewiesene Ziel der 2011 von der Musikschule Konservatorium Bern gegründeten Jeki Stiftung Bern. Damit will man sich einer Chancengleichheit auf dem Gebiet der musikalischen Bildung annähren. Denn während «in der Innenstadt und im bürgerlichen Kirchenfeld etwa 50 Prozent aller Kinder der 1. bis 4. Klassen Unterricht am Konsi erhalten, sind es in Bern West teilweise deutlich unter 10 Prozent», wie Gerhard Müller, Direktor der Musikschule Konservatorium Bern, 2009 in der Schweizer Musikzeitung schrieb. Die Jeki Stiftung Bern unterhält Singklassen und unterstützt Instrumentalunterricht in kleinen Gruppen, indem sie kostenlos Leihinstrumente zur Verfügung stellt. Im Schuljahr 2011/2012 arbeitete sie mit zehn Stadtberner Schulen zusammen, drei davon befinden sich im Westen der Stadt.
Mit Getröte Verantwortung übernehmen
Auch Jean-Luc Reichel möchte möglichst vielen Kindern einen lebendigen Musik- und Instrumentalunterricht ermöglichen. «Dafür setze ich mich gerne dem Getröte und Getöse aus.» Die oftmals hoch gelobten, aber nicht unumstrittenen Transfereffekte, die Begünstigung aussermusikalischer Fähigkeiten durch das Klassenmusizieren, sieht er aber in seinem Alltag mit der Klasse bestätigt. «Die Klasse entwickelt einen ganz anderen Zusammenhalt. Die Kinder lernen aufeinander zu hören, aber auch sich vor anderen zu präsentieren. Sie müssen sich vorbereiten, damit sie das Funktionieren des Teams nicht behindern, sie übernehmen so von Anfang an eine Verantwortung für die Gemeinschaft.» Während sich die Schwächeren im Stimmregister aufgehoben fühlen, können die Stärkeren hervortreten und brillieren. Das Interessante dabei: «Die Guten in der Schule sind nicht unbedingt die Guten im Orchester. Manche Schüler intergrieren sich aufgrund ihres Intruments trotz anderer Schwierigkeiten sehr gut in die Klasse.»
«Die Guten in der Schule sind nicht unbedingt die Guten im Orchester.»
Jean-Luc Reichel, Co-Leiter der Bläserklasse Ostermundigen
Die Befürchtungen von Reichels Musiklehrerkolleginnen und -kollegen, dass Instrumentalklassen zu weniger Unterricht an den Musikschulen führen würden, hätten sich nicht bestätigen lassen. Das Gegenteil sei sogar eingetroffen. «Heute kommen Kinder in die Musikschule, die ohne Bläserklasse nie und nimmer Musikunterricht genommen hätten.» Musizierende Klassen stehen ausser Konkurrenz mit dem Instrumentalunterricht an der Musikschule, weil der Unterricht in den Klassen nicht denselben fundierten Unterricht am einzelnen Instrument anbieten kann. «Dafür sehe ich immer wieder, dass die Kinder aus der Bläserklasse oft besser zusammenspielen als mancher Einzelschüler», sagt Reichel nicht ohne Stolz. «Es ist schön, zu sehen, wie sie da sitzen und in ein vierstimmiges Stück einsteigen können – ein Stück mit Pausen und verschiedenen Einsätzen –, ohne dass jemand hilft.»
Bezug zu Blasinstrumenten fehlt sonst
Beinahe nüchtern hält Schulleiter Martin Frei fest, dass die Bläserklasse seiner Schule den Schülerinnen einen Erfahrungshorizont eröffne, der vielen Kindern sonst verschlossen bliebe. Denn «die Ostermundiger Kinder haben kaum einen Bezug zu Blasinstrumenten. Mit einer Bläserklasse erhalten auf einmal zwanzig Kinder die Chance, ein Instrument zu erlernen, was vielleicht sonst nur ein Kind machen könnte.» Die Musik biete weiter einen wertvollen Gegenpol zu den Fächern Deutsch, Französisch und Mathematik, die gerade in der fünften und sechsten Klasse mit Hinblick auf den Übertritt in die Oberstufe intensiviert werden. Ein weiterer Vorteil der musizierenden Klasse sei die Möglichkeit, im Klassenverbund etwas zustande und sogar zur Aufführung bringen. Etwas, das in der Schule zu kurz kommt. «Man produziert oftmals für sich, für die Eltern oder für den Lehrer oder die Lehrerin etwas. Echte Gelegenheiten, sein Können oder seine Produkte einem Publikum zu präsentieren, fehlen.»
Ins Instrument schreien
Für einmal präsentieren die frisch gebackenen Musikantinnen und Musikanten aber nicht einstudierte Stücke, sondern ihre für das «Totally Flipside»-Projekt eigens entwickelte Musik.
«Sie singen und schreien ins Instrument, klappern und hauchen und machen alles andere als das Übliche.»
Jean-Luc Reichel, Co-Leiter der Bläserklasse Ostermundigen
Dafür haben sie, kaum haben sie erste Töne spielen gelernt, Wege gefunden, ihren Instrumenten neuartige und schräge Klänge zu entlocken. «Sie singen und schreien ins Instrument, klappern und hauchen und machen alles andere als das Übliche», erzählt Reichel. Er ist überzeugt, dass die Kinder dazu einen lockereren Zugang zum Instrument bekommen, der dem Instrumentalspiel zuträglich ist. Klar ist, dass diese «anderen Töne» die Welt zumindest im Kleinen auf den Kopf zu stellen vermögen. Nämlich dann, wenn die 11-Jährige Trompetenspielerin ihrem Lehrer beibringen muss, wie man mit dem Mundstück der Trompete dieses merkwürdige Plop-Geräusch erzeugen kann. Und das sei hier ja auch das Ziel: Im Untergraben der Normalität das «andere», die «B-Seite», finden.