Mit dem Mut der Verzweiflung

von Basrie Sakiri-Murati 20. Januar 2023

Weltweit stehen Frauen auf, wehren sich gegen Unterdrückung. Unsere Kolumnistin weiss, was das bedeutet und woher Demonstrantinnen Kraft schöpfen.

Schon im 80er Jahren, als ich noch in Kosovo lebte, wurden Jungs bevorzugt. Sie durften sich überall frei bewegen. Es war selbstverständlich, dass sie, wenn die Eltern Geld hatten, in die Stadt das Gymnasium besuchten und anschliessend studieren durften. In gewissen Regionen, vor allem in den unentwickelten Dörfern, waren den Mädchen all diese Rechte grösstenteils nicht gegönnt. Nach der obligatorischen Schulzeit durften sie nicht einmal ohne männliche Begleitung aus dem Haus. Keine wagte, etwas dagegen zu unternehmen, obwohl alle darunter litten. Schläge und Zwangsheirat erwarteten einen, wenn man sich zu wehren wagte. Deshalb schwiegen sie.

Unser Traum war es, die Patriarchalkette aufzubrechen und später für die Freiheit Kosovos zu kämpfen. Woher wir den Mut nahmen, frage ich mich heute.

Ich war ein Teenager, als mir diese Ungerechtigkeit grosse Mühe machte. Doch etwas dagegen zu tun, war für mich anfänglich unvorstellbar. Mein Vater war sehr streng. Mich gegen seinen Willen aufzulehnen – unmöglich! Selbst in Gedanken war es verboten, ohne seine Erlaubnis etwas zu tun, geschweige denn gegen seine Einstellung zu kämpfen. Doch als ich ins achte Schuljahr kam, wagte ich es, meine Gedanken unter einigen Schulfreundinnen zu äussern. Warum ausgerechnet dann? Nachdem ich das achte Schuljahr abgeschlossen hätte, wäre ich wie 90% der Dorfmädchen ein Hausmädchen geworden und hätte ziemlich bald heiraten müssen. Dazu verschlechterte sich die politische Lage von Tag zu Tag. Also sagte ich mir: ich habe nichts zu verlieren.

Mit 15 Jahren gründeten wir zu fünft eine Mädchengruppe. Wir nannten uns «Vajzat me kordele të kuqe» (Die Mädchen mit den roten Bändern). Unser Traum war es, die Patriarchalkette aufzubrechen und später für die Freiheit Kosovos zu kämpfen. Woher wir den Mut nahmen, frage ich mich heute. Wahrscheinlich waren es meiner Mutter und meine älteren Schwestern, welche mich bestärkten. Ich fand es unglaublich, dass sie bis spät abends auf dem Feld und auf dem Hof hart arbeiten mussten, aber keine einzige Freiheit geniessen durften. Sie waren eingesperrt und lebten wie Sklavinnen.

Die Proteste in Iran erinnern mich an unsere Demonstration im Frühling 1989, als wir in Podujevë gegen die Absetzung unserer Autonomie protestierten.

Umso besser kann ich heute nachvollziehen, wie die iranischen Frauen euphorisch protestieren und sich gegen ein Leben in Gefangenschaft wehren. Mit dem Mut der Verzweiflung gehen sie auf die Strasse und demonstrieren, obwohl sie einen grossen Diktator vor sich haben. Es geht nicht nur um ein Kopftuch, sondern um viel mehr. Das Kopftuch schränkt sie nicht nur körperlich ein, es nimmt ihnen auch jegliche Freiheit. Das ist der erste Schritt zur totalen Versklavung. Sie werden keine Ausbildung machen dürfen und keiner Arbeit nachgehen können. So werden sie abhängig von den Männern und einfacher manipulierbar. Sie werden keinerlei Menschenrechte haben.

In Afghanistan ist die Situation noch schlimmer und die Unterdrückung der Frauen noch brutaler. Frauen dürfen nun nicht mehr zur Universität gehen. Was das für sie heisst, kann ich nur ahnen. Aber ich kann allen nachfühlen, die vor einem radikalen islamistischen Regime schweigen. Weil im Regime der Taliban der Tod auf sie wartet.

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Die Proteste in Iran erinnern mich an unsere Demonstration im Frühling 1989, als wir in Podujevë gegen die Absetzung unserer Autonomie protestierten. Wir riefen u. a. auch die Parole: «Më mirë vdekje se robëri!» (Lieber tot als gefangen!). Nie werde ich vergessen, wie die jungen Albanerinnen euphorisch und entschlossen auf die Strassen gingen. Unter denen gab es Frauen, die zuhause «angekettet» waren, aber an diesem Tag brachen sie die Regeln des Patriarchats. Das war vor 33 Jahren. Inzwischen ist Kosovo ein freies Land und die Lage der Frau ist ein wenig besser geworden. Aber es gibt noch viel zu tun!

(Ich schätze es, dass ich in einem liberalen Land lebe. Doch auch hier werden Frauen noch nicht überall gleichbehandelt. Ich frage mich immer wieder, woher der Mann das Recht nimmt, über die Frau zu bestimmen, sie zu schlagen und sogar zu ermorden. Es ist eine bittere Realität. Allein im Kosovo wurden letztes Jahr dutzende Frauen von ihren Ehemännern umgebracht!)